"Sinnsuche ist mühsam"

Werbung
Werbung
Werbung

Der kirchlichen Seelsorge ist mit der Psychotherapie eine Konkurrentin erwachsen. Karl Heinz Ladenhauf, Pastoraltheologe und -psychologe an der Universität Graz, spricht im Furche-Interview über diese "Geschwisterrivalität", den Umgang der Kirche mit Schuld und die Suche nach dem Sinn des Lebens.

Die Furche: Es heißt, die Psychotherapeuten seien die modernen Seelsorger geworden. Tatsächlich scheinen sich die Warteschlangen vor den Beichtstühlen in die psychotherapeutischen Praxen verlagert zu haben ...

Karl Heinz Ladenhauf: Es gibt auch den Ausspruch, die Psychotherapeuten seien die Beichtväter des 20. Jahrhunderts. Das stimmt insofern, als psychologische Deutungskonzepte durch die Individualisierung und weltanschauliche Pluralisierung der Gesellschaft Konjunktur bekommen haben. Neben die Seelsorge sind andere Instanzen und Berufe getreten, die ebenso Lebensdeutungskompetenz beanspruchen. Ich wäre aber vorsichtig mit der Aussage, die Seelsorge sei in den Hintergrund getreten. Vielleicht ist sie in der öffentlichen Wahrnehmung und in ihrer Selbstdarstellung zurückhaltender geworden, was möglicherweise mit der Verunsicherung der Kirche und des kirchlichen Personals insgesamt zu tun hat. Trotzdem haben wir Grund genug, selbstbewusst zu sein. Es wird auch im Rahmen der Seelsorge qualitativ hochwertige Arbeit geleistet, bei aller Wahrnehmung der Inkompetenzen, die es zweifellos gibt.

Die Furche: Konservative Kreise in der Kirche kritisieren, dass sich die Psychotherapie zu viel anmaßen würde. Was kann sie leisten - und was nicht?

Ladenhauf: Psychotherapie ist eine wichtige Dimension psychosozialer Arbeit, aber eben nur eine. Bei manchen Rollenträgern in der Kirche habe ich den Eindruck, dass sie die Kompetenz der Psychotherapie überschätzen, weil sie sie als Konkurrenz erleben. Wir können und dürfen uns aber nicht mehr aus einer Position der Obrigkeit behaupten, sondern müssen das mit der diakonischen Grundorientierung der Kirche tun. Dazu gehört auch die konstruktive und kritische Auseinandersetzung mit anderen Berufen in diesem Feld.

Die Furche: Gemeinhin wird definiert, Seelsorge wende sich an die bewussten Bereiche des Menschen, Psychotherapie an die unbewussten. Stimmt Ihrer Meinung nach diese Zuteilung?

Ladenhauf: Diese beiden Bereiche sind schwer voneinander zu trennen, denn auch die Seelsorge hat es mit unbewussten Prozessen zu tun. Die spezifische Kompetenz der Psychotherapie liegt natürlich darin, mit psychodynamischen Prozessen umzugehen, die in beträchtlichem Maße vom Unbewussten beeinflusst sind. Aber das ist nicht das Hauptunterscheidungskriterium. Ein wichtiger Punkt liegt in der unterschiedlichen Anthropologie: Für die Seelsorge ist klar, dass sie den Menschen wesentlich als in Beziehung zu Gott stehend sieht. Für die Psychotherapie ist diese Dimension nicht zwangsläufig von Bedeutung, obwohl gute Psychotherapeutinnen und -therapeuten die religiöse Dimension miteinbeziehen, wenn sie für einen Patienten relevant ist. Schlechte werden das nicht tun, weil sie es ideologisch ausblenden. Was die Seelsorge jedenfalls über die Psychotherapie hinaus anzubieten hat, ist die Einbindung von Menschen in soziale Netze. Die Psychotherapieforschung zeigt deutlich, dass diese Einbindung ein wesentlicher Heilfaktor ist. In der Psychotherapie gibt es noch immer eine gewisse Gefahr, die Möglichkeiten des Individuums zu überschätzen. Das ist verständlich, weil wir es vielfach mit Menschen zu tun haben, die es aus verschiedensten Gründen noch nicht geschafft haben, Subjekte ihres Lebens zu werden.

Die Furche: Der Münchner Religionsphilosoph Eugen Biser beklagt, dass die "therapeutische Funktion des Christentum" vergessen worden sei. Teilen Sie seinen Befund?

Ladenhauf: Ich spreche lieber von der diakonischen Dimension der Theologie oder des Christentums. Es war immer ein konstitutives Element des Christentums, sich um Menschen in Not zu kümmern. Diese Dimension ist im Lauf der Geschichte durch die Positionierung der Kirche als gesellschaftlich mächtige Organisation sicher in den Hintergrund getreten. Mit dem Machtverlust der Kirchen ist nun die große Chance gegeben, dass es eine Rückkehr zur Diakonie gibt. Es hat keinen Sinn mehr, davon zu träumen, magische Heilungsvorstellungen zu entwickeln, wobei ich großen Respekt davor habe, Heilungsgebete oder -gottesdienste zu veranstalten, wie es in manchen charismatischen Gruppierungen der Fall ist - so lange man nicht ins Magische abgleitet und Menschen Heilungsmöglichkeiten suggeriert, die nicht gegeben sind.

Die Furche: Viele diagnostizieren in der Kirche weniger heilende Faktoren als vielmehr eine "Pädagogik der Angstsuggestion" und krank machende Strukturen ...

Ladenhauf: Eine angstmachende Religiosität, eine Drohbotschaft kann tatsächlich einen gravierenden Belastungsfaktor darstellen. Deshalb von einer "ekklesiogenen Neurose" zu sprechen, wie das in den fünfziger Jahren gängig wurde, ist aber wissenschaftlich nicht zu halten - schon deshalb, weil es eine Genese psychischer Störungen auf Grund eines einzelnen Faktors nicht gibt. Es ist immer ein multidimensionales Geschehen. Eine bedrohliche Religiosität kann aber die Lebensbewältigung erheblich erschweren und massive Schuldgefühle erzeugen, die zu gravierenden seelischen Belastungen führen können. Das zu leugnen, wäre naiv.

Die Furche: Der Psychotherapeut und Priester Arnold Mettnitzer sieht in der Beichte oft einen "Ort der entwürdigenden Demütigung". Wie beurteilen Sie den kirchlichen Umgang mit Schuld?

Ladenhauf: Die Kirche hat eine massive Schuldgeschichte im Umgang mit Schuld. Wir haben lange Zeit einfach Machtpositionen ausgenützt. Dieser Umgang hat das Sakrament der Buße nachhaltig desavouiert. Ich halte es deshalb für gefährlich, wenn man innerkirchlich die Ursachen für die Krise des Bußsakraments nach außen projiziert und sagt, die Menschen haben kein Schuldbewusstsein mehr. Das halte ich für eine völlige Fehldiagnose. Sondern wir müssen wieder zur zentralen Botschaft des Christentums zurückkehren: der Freiheit und Würde des Menschen als Subjekt seines Lebens. Dann werden die Menschen die Rollenträger in der Kirche wieder als Gesprächspartner ernst nehmen. Bevor die Menschen aber in der Kirche keine Freiheitserfahrungen machen können, wird eine Wiederbelebung des Bußsakraments nicht möglich sein. Was den Umgang mit Schuld anlangt, kann die Seelsorge von der Psychotherapie viel lernen, etwa das Hinführen zu Schuldanerkennung als Voraussetzung für Schuldbekenntnis. Ich halte es für fatal, wenn manche - Gott sei Dank nur mehr wenige - der Psychotherapie pauschal vorwerfen, sie löse Schuld einfach in Schuldgefühle auf. Andererseits gibt es aber auch Psychotherapeuten, die den Kunstfehler begehen, auch existenziell-objektive Schuld in neurotische Schuldgefühle aufzulösen. Aber das sind aus meiner Erfahrung nur einzelne ideologisierende Positionen.

Die Furche: Apropos lernen: Wie viel psychotherapeutisches Rüstzeug bekommen die Seelsorgerinnen und Seelsorger während ihrer Ausbildung mit, um ein "Stümpern an der Seele" zu verhindern?

Ladenhauf: Bisher wurden die Seelsorger nicht flächendeckend geschult. Es gibt aber erste Ansätze. Wir haben in den Lehrplänen an den theologischen Fakultäten Pastoralpsychologie-Lehrveranstaltungen integriert und es jetzt in Graz geschafft, die Pastoralpsychologie zu einem Pflichtfach zu machen. Aus der Wahrnehmung dieses Defizits heraus habe ich 1976 ein Weiterbildungsprojekt gegründet, das inzwischen fast 400 Seelsorgerinnen und Seelsorger in dreijährigen Kursen pastoralpsychologisch qualifiziert hat.

Die Furche: Eine Problematik, die in der Seelsorge wie auch in der Psychotherapie auftritt, sind psychische oder spirituelle Abhängigkeiten. Wie groß ist hier das Problembewusstsein?

Ladenhauf: Faktum ist, dass es das gibt. Es ist aber kein Spezifikum der Seelsorge. Wichtig wäre, dass wir die Seelsorger herausbekommen aus ihrem Einzelkämpferdasein, denn vielfach ist es ein Phänomen der Einsamkeit und des persönlichen Unglücks, dass die Angewiesenheit von Menschen ausgenützt wird, um sie abhängig zu machen. Ich glaube, dass wir aufhören müssen so zu tun, als gäbe es das nicht - in der Psychotherapie wie in der Seelsorge. Wir müssen uns noch viel mehr um die Lebenssituation der Seelsorger kümmern: Es gibt zu viele, die vereinsamen oder die mit dem krisenhaften Umbruch ihrer Rolle nicht zurecht kommen. Ich halte das für einen der relevanten Gründe, dass es zu sexuellem Missbrauch kommt: Hierbei handelt es sich um den Versuch, die eigene Person über den Missbrauch anderer zu stabilisieren.

Die Furche: Eines der brennendsten Probleme vieler Menschen von heute ist die erfolglose Suche nach dem Sinn des Lebens. Kann die Psychotherapie hier adäquate Antworten liefern?

Ladenhauf: Das Wort "Sinn" ist eine sehr schwierige Vokabel. Sinn finden heißt, in Beziehung sein zu anderen Menschen, zu Aufgaben, zur Welt überhaupt. Das Thema "Sinn" kommt selten explizit vor, sondern diese Frage stellt sich dann, wenn Beziehungen oder Lebensperspektiven zerbrechen. Es genügt dann in der Psychotherapie nicht zu sagen: "Wir vermitteln keine Inhalte. Die müssen die Menschen selber finden. Wir unterstützen sie nur dabei." Dort, wo Menschen in solche Lebenssituationen kommen, suchen sie Orientierung. Dort ist ihnen jeder in irgendeiner Weise Modell. Die Seelsorge hat es hier leichter, weil Menschen, die sich an einen Seelsorger wenden, wissen, mit welchem weltanschaulich-religiösen Horizont er oder sie auf das Leben blickt. Die Seelsorge hat es aber auch schwerer, weil sie vielleicht damit rechnen muss, dass Menschen schnelle Antworten haben wollen - und die gibt es in der Sinnfrage nicht. Das ist ein Prozess des Suchens und des mühsamen Ringens. Ich halte es für bedenklich, wenn Seelsorger fertige Sinnpakete verkaufen. Christliche Deutungsperspektiven sollen und müssen verbalisiert werden, aber als eine Möglichkeit, sich damit auseinanderzusetzen, und nicht in Form von Instant-Lösungen nach dem Motto: "Ich weiß, was der Sinn des Lebens ist." Das wird kein Beitrag zur Sinnfindung sein.

Die Furche: Bezüglich der Sinnfrage verfolgen die Theologen Eugen Drewermann und Johann Baptist Metz unterschiedliche Ansätze. Die Frage ist: Muss ich zuerst mit mir selbst ins Reine kommen, um an anderen "Frucht" bringen zu können, wie Drewermann meint, oder erschließt sich mir der Sinn erst durch den Dienst am Anderen, wie Metz glaubt? Welcher Position neigen Sie eher zu?

Ladenhauf: Ich gebe Drewermann Recht, wenn er meint, dass man sich mit den eigenen Positionen auseinandergesetzt haben muss. Ich gebe ihm dann nicht Recht, wenn das implizieren würde, dass ich das aus mir selbst heraus gemacht haben muss. Denn Sinn oder Lebensorientierung ist nur in Beziehung zu gewinnen. Wir kreieren unsere Identität nicht aus uns selbst heraus, sondern unsere Identität - auch im Glauben - erwächst immer aus Beziehung. Es braucht beide Pole: jenen des Subjekts, des Individuums, und jenen das engagierten In-der-Welt-Seins im Sinn von Metz. Es braucht das Wissen, dass wir nur in Beziehung existieren können und dass die Herausforderung der Solidarität eine ganz entscheidende ist. Im Christentum sind meines Erachtens beide Pole im Blick. Nur die Praxis sieht oft anders aus.

Das Gespräch führte Doris Helmberger.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung