Solidarität über Grenzen hinweg

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Solange es Ungleichheit gibt - national, international, zwischen Geschlechtern, Klassen und Schichten -, gibt es Grund für linke Politik. Nur muß die heutige Linke, will sie politikfähig bleiben, international werden.

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Solange es Ungleichheit gibt - national, international, zwischen Geschlechtern, Klassen und Schichten -, gibt es Grund für linke Politik. Nur muß die heutige Linke, will sie politikfähig bleiben, international werden.

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ZUM THEMA Lechts und rinks! Die Drängelei in der politischen Mitte hat zumindestens verbal ein Ende gefunden. Rechts sitzt in der Regierung und Links trifft sich auf der Straße, lautet die gängige Sprachregelung. Doch welche Kriterien muß Politik erfüllen, um in das eine oder andere Schema zu passen?

Ursprünglich stammen die Bezeichnungen rechts und links aus dem Sprachgebrauch der französischen Kammern nach der Französischen Revolution. Sie entsprachen der Sitzordnung der politischen Parteien vom Präsidentensessel aus gesehen. Der Name "Links" wurde für sozialistische Parteien verwendet. Später umfaßte er alle, die politisch das Moment des Veränderns betonten, liberal und fortschrittlich waren. "Rechts" bezeichnete die konservativen Abgeordneten, die sich für die Bewahrung traditioneller Vorstellungen und Werte einsetzten.

Ob diese Definition heute noch stimmt, hat die Furche zwei Experten gefragt. Denn Ernst Jandl brachte das Problem in seinem Gedicht "Lichtung" auf den Punkt: manche meinen/lechts und rinks/ kann man nicht/velwechsern./werch ein illtum!

WM Es gibt heute gute Gründe, die alte Dichotomie links und rechts anzuzweifeln. Es gibt aber mindestens ebenso gute Gründe, diese Dichotomie weiterhin für sinnvoll zu halten. Linke Politik ist heute ein - zum Teil - ebenso überholter Begriff wie rechte Politik. Dennoch leben Kernelemente dieser Unterscheidung fort. Die Dichotomie zwischen links und rechts ist relativiert , sie ist aber nicht überholt.

Ein Aspekt der Relativierung ist, daß das Phänomen des "Populismus" sich zu der Links-Rechts-Achse querlegt. Der Populismus, der primär eine Stil- und weniger eine Inhaltsqualität der Politik anzeigt, kann im linken wie auch im rechten Gewand auftreten. Aktionistische Proteste gegen das System, gegen das Establishment werden in Deutschland von der postkommunistischen PDS ebenso genützt wie von der österreichischen FPÖ.

Ein weiterer Aspekt der Relativierung ist das Spannungsfeld zwischen materialistischen und postmaterialistischen Einstellungen zur Politik. Es gibt einen rechten Materialismus - etwa in Form eines ausgeprägten Besitz- und eines ebensolchen Law-and-Order-Denkens. Es gibt einen linken Materialismus, der sich auf den Ausbau des Sozial- und Wohlfahrtsstaates konzentriert. Und es gibt einen linken Postmaterialismus - die meisten Grünen zählen wohl dazu -, deren Internationalismus wohl zu Recht als linkes Element gelten kann. Dazu kommt noch ein rechter Postmaterialismus, etwa in Form einer deutlich antimodernistisch ausgeprägten ökologischen Orientierung.

Doch das sind Relativierungen, die nichts daran ändern, daß das traditionelle Spannungsfeld zwischen individueller Freiheit und sozialer Gleichheit aktueller ist denn je. Vernachlässigt man die extremen Formen der Links-Rechts-Achse, so ist die traditionelle rechte Position, mit Edmund Burke beginnend, von einer Skepsis gegenüber dem Ziel der Gleichheit und von einer Betonung des Zieles der Freiheit gekennzeichnet - und die traditionell linke Position, von den Frühsozialisten und teilweise auch Sozialliberalen a la John Stuart Mill an, setzt die Akzente zwischen Freiheit und Gleichheit genau anders herum.

Linke Politik heute bedeutet, die Frage nach der sozialen Gleichheit aktuell zu stellen. Linke Politik heute heißt, die in vielen Bereichen wachsende soziale Ungleichheit zu konfrontieren - zum Beispiel die wachsende Einkommensungleichheit in den entwickelten Industriestaaten ebenso wie die Chancenungleichheit zwischen Frauen und Männern wie auch die extrem ungleich verteilten Lebenschancen zwischen Nord und Süd. Dabei hilft es linker Politik nicht, auf programmatische Rhetorik zu setzen. Vielmehr muß sich eine aktuelle Linke zunächst mit zwei sie besonders herausfordernden Fragen beschäftigen: * Was bedeutet das offenkundige Scheitern des leninistischen Experiments für die demokratische Linke? Genügt es, wenn sie auf den fundamentalen Unterschied zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten im Demokratieverständnis verweist?

* Was bedeutet die abnehmende Gestaltungskraft der demokratischen Linken in Europa und in Nordamerika, wo - trotz einer starken, oft hegemonialen Präsenz linker Parteien - die gesellschaftliche Entwicklung gerade im ökonomischen Bereich traditionell linken Ansprüchen zu widersprechen scheint?

Die aktuelle, die demokratische Linke kann aus diesen beobachtbaren Entwicklungen eine Lehre ziehen: In der Vergangenheit hat es eine - von links kommende - Überschätzung der politischen Machbarkeit gegeben. Diese Überschätzung steht hinter dem katastrophalen Scheitern des Leninismus, und sie erklärt auch, daß trotz sozialdemokratischer Wahlerfolge die Schere sozialer Ungleichheit sich weiter auftut. Linke Politik muß, soll also zunächst mit einer selbstkritischen Bilanz beginnen. Erst wenn die Linke sich der Frage nach dem - teilweisen - Scheitern gestellt und beantwortet hat, kann sie eine Politik für die Zukunft entwickeln.

Die wichtigste Herausforderung an linke Politik ist die vielfach zu beobachtende Aufhebung der Grenzen: Die ökonomische Globalisierung ist die Hauptursache der abnehmenden Politikfähigkeit der Nationalstaaten. Da aber linke Politik in der Vergangenheit die Rolle des Nationalstaates - etwa in Form des Sozial- und Wohlfahrtsstaates - sosehr betont hat, entzieht diese Entwicklung der linken Politik "alt" die Grundlagen.

Eine linke Politik "neu" kann nicht an der Globalisierung vorbei Politik machen - so als gebe es das nicht, was die einschneidendste Realität heutiger Politik ist. Eine linke Politik "neu" muß auf der Grundlage der Globalisierung agieren: politische Instrumente neu entwickeln und politisches Bewußtsein schaffen, um linke Politikfähigkeit zurückzugewinnen.

Dafür ist die (europäische) Linke gut und schlecht gerüstet: * Sie ist gut gerüstet, weil ja am Beginn der modernen Linken die Einsicht in die Begrenzung nationaler Souveränität gestanden ist. Die Formel von der "internationalen Solidarität" war nie so aktuell wie heute.

* Sie ist schlecht gerüstet, weil die Linke in Vergangenheit (1914 etwa) und Gegenwart (in der Abwehrhaltung gegen Immigration) im Zweifel doch national statt übernational war. Die reale Linke ist von den Beschränkungen nationaler Politik geprägt.

Will die Linke ihre Politikfähigkeit nicht noch weiter einbüßen, muß sie international werden. Sie muß zum Beispiel in der Europäischen Union als eine Partei auftreten - und nicht als lose Allianz nationaler Parteien. Sie muß eine europäische Solidarität der Gewerkschaften entwickeln. Und sie muß sich vor allem den Ängsten der sozial Schwachen in den privilegierten Staaten Westeuropas stellen - nicht, indem sie diese einfach akzeptiert und dem nationalistischen Impuls der Ausgrenzung folgt; sondern indem sie nationales Bewußtsein in Richtung internationales erweitert.

In den USA hat die Debatte um die Produktionsstätten des Sportartikelunternehmens "Nike" die Problematik aufgezeigt: Nike läßt etwa in Vietnam produzieren - und verlagert so Arbeitsplätze aus Nordamerika nach Asien. Die Nike-Beschäftigten in Vietnam arbeiten unter Bedingungen und um Löhne, die in Nordamerika unakzeptabel wären.

Linke Politik "alt" ist dafür, gegen Nike zu mobilisieren - und dabei zu übersehen, daß Nike (und die vielen anderen) ihren Beschäftigen in Vietnam Chancen bietet, die sonst nicht vorhanden wären. Linke Politik "neu" wäre, den Kontakt mit den Beschäftigten in Asien zu suchen - um, im Sinne der internationalen Solidarität, auch deren Interessen zu erfahren und zu berücksichtigen.

Linke Politik "alt" ist - als nationale Antwort auf die Globalisierung - gescheitert. Linke Politik "neu" kann - als internationale Antwort auf die Globalisierung - der Linken die fast schon verlorene Politikfähigkeit zurückgeben.

Solange es Ungleichheit gibt - national, international; zwischen Geschlechtern und Völkern; zwischen Klassen und Schichten -, solange gibt es Grund für linke Politik. Linke Politik wird es daher immer geben. Die Frage ist nur, ob es die Linke schafft, sich aus den Fesseln der Grenzen zu befreien, aus denen sich die Ökonomie schon längst befreit hat.

Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck.

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