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Die Globalisierung der Menschenrechte als Herausforderung für die Gewerkschaften.

Das Verhältnis zwischen Menschenrechten und gewerkschaftlichen Rechten in der heutigen Welt ist durch ein großes Paradox gekennzeichnet. Der etablierten Gewerkschaftsbewegung geht es nicht sonderlich gut. In Großbritannien und den USA wird das am deutlichsten, wo während des letzten Vierteljahrhunderts der gewerkschaftliche Organisationsgrad dramatisch abgenommen hat. Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen abgesehen - Südafrika, Südkorea, Brasilien - lässt sich für die Mitgliederzahlen und die Macht der Gewerkschaften rund um die Welt das gleiche feststellen.

Der Niedergang der Gewerkschaftsbewegung ist nicht nur eine Frage sinkender Mitgliederzahlen, fehlender Möglichkeiten, Druck bei Verhandlungen auszuüben, und mangelnder politischer Durchsetzungskraft. Er hat auch eine moralische und ideologische Dimension. Die Suche nach einem internationalen Mechanismus, der die Position der Gewerkschaftsbewegung in einer globalisierten Wirtschaft stärken würde, hat sich als qualvoll langwierig und mühsam erwiesen - und daran sind nicht nur die Macht und Vorrangstellung des Kapitals schuld. Die Schwierigkeiten sind vielmehr zugleich Ausdruck der Tatsache, dass die Gewerkschaften nur noch begrenzt die Geltung und das Ansehen einer Institution genießen, die imstande ist, die Interessen der einfachen Leute rund um die Welt zu vertreten. Nur zu oft werden die Gewerkschaften als Befürworter des Status quo betrachtet; sie wirken mit an der Aufrechterhaltung geschlechtlicher und ethnischer Hierarchien, an denen im globalisierten Norden Anstoß genommen wird. Und im globalisierten Süden scheinen Gewerkschaften, soweit sie existieren, häufig zur etablierten Führungsschicht zu gehören.

Globale Zivilgesellschaft

All dies steht in Kontrast und wohl auch in ursächlichem Zusammenhang mit der bemerkenswerten Zunahme an moralischer Macht und schierer politischer Durchsetzungskraft, welche die Bewegung für die internationale Geltung der Menschenrechte im letzten Vierteljahrhundert erlebt hat. Kriegsverbrecher werden in Den Haag vor Gericht gestellt, die Rechte der Frauen gewinnen sogar im Nahen Osten soziale und politische Aktualität, und die Verteidigung der Rechte ethnischer Minderheiten hat einen Grad von Akzeptanz erreicht, wie man ihn nicht mehr erlebt hat, seit Woodrow Wilson vor rund 80 Jahren den Begriff "Selbstbestimmung" in den diplomatischen Wortschatz einbrachte. Diese weltweite Anerkennung der Menschenrechtsidee ist zur Grundlage für eine neue Art von Politik, ja, für eine neue Art globalisierter Zivilgesellschaft geworden. Tausende von regierungsunabhängigen Organisationen haben es sich zur Aufgabe gemacht, Verstöße gegen die Menschenrechte aufzudecken und soziale, ökonomische und rechtliche Rahmenbestimmungen durchzusetzen.

US-Rechtsbewusstsein

Wenn man sich ein Bild vom zukünftigen Zusammenhang zwischen Menschenrechten, Arbeitnehmerrechten und gewerkschaftlicher Entwicklung machen will, kann es nützlich sein, einen Blick auf die Rechtsentwicklung in der Arbeitssphäre in den USA zu werfen. In keinem anderen großen Land besitzt das Rechtsbewusstsein eine so große Bedeutung - für die Gesetzgebung, die Kultur, die Außenpolitik, bis in die Details des Alltagslebens und der Sprache. Seit den sechziger Jahren hat sich innerhalb der großen Wirtschaftsunternehmen, der staatlichen Verwaltungsapparate, der Universitäten und des gesamten politischen Spektrums eine multikulturelle, für Fragen des Geschlechterverhältnisses sensible Kultur der Rechtsansprüche Ausdruck, institutionelle Präsenz und Geltung verschafft. In der gleichen Zeit aber, in der diese Kultur der Rechtsansprüche eine dominierende Stellung errang, erlebte die Arbeiterbewegung als Idee, Ideologie und Institution einen Niedergang. In keiner anderen großen Nation, sieht man einmal von ausgemachten Diktaturen ab, haben die Gewerkschaften so viele Mitglieder und so viel Einfluss eingebüßt.

In der Form, in der sich der Rechtsanspruchsdiskurs in der amerikanischen Gesetzgebung und politischen Kultur entwickelt hat, hat er auch zu einer Unterminierung der Idee gewerkschaftlicher Solidarität und ihres institutionellen Ausdrucks geführt. Solidarität ist nämlich nicht einfach nur eine Gefühlsregung, sondern erfordert das nötige Maß an Zwang, um für den Fall, dass nicht alle Mitglieder der Organisation einer Meinung sind, den sozialen Zusammenhalt zu erzwingen. Gewerkschaften sind Kampforganisationen, und Solidarität ist nicht einfach nur ein anderes Wort für Mehrheitsentscheidungen, zumal dann nicht, wenn die Existenz der Organisation auf dem Spiel steht.

Angesichts der Entwicklung, die der Bürger- und Menschenrechtsdiskurs in den USA genommen hat, überrascht es nicht, dass die Gerichte begonnen haben, das industriearbeiterschaftliche Solidaritätsprinzip als solches in Frage zu stellen, sogar in entscheidenden Streiksituationen. So hat zum Beispiel das Oberste Gericht entschieden, Arbeiter hätten das Recht, mitten in einem Streik ihre Mitgliedschaft zu kündigen und sich anschließend als Streikbrecher zu betätigen, ohne die für diesen Fall vorgesehenen disziplinarischen Strafgelder an ihre gewerkschaftlichen Genossen entrichten zu müssen. Erneut unter Federführung seiner liberalistischsten Angehörigen untergrub hier das Oberste Gericht die Grundlage kollektiver Solidarität; dieser uralte gewerkschaftliche Antrieb verwandelte sich in der Interpretation des Gerichts in einen aus rechtlichen und bürokratischen Druckmitteln bestehenden Zwangsmechanismus, der die arbeitsbezogenen Rechte des einzelnen Exgewerkschaftlers mit Füßen trat - eine Sichtweise, die sich kaum noch von den Ansichten der gewerkschaftsfeindlichen Kräfte auf der politischen Rechten unterschied.

Kuriosum Solidarität

Die gleiche Art von rechtsbewusstem Liberalismus, die für die Abschaffung der Rassentrennung sorgte, die McCarthy-Ära beendete und die Gleichberechtigung der Frauen durchsetzte, untergrub also die Rechtsgrundlage gewerkschaftlicher Macht und verwandelte die Solidarität der Arbeitnehmerschaft in ein Kuriosum, ein überholtes Konzept. Dieser These vom Niedergang der amerikanischen Gewerkschaften und von der Entwertung kollektiver Tarifverhandlungen ließe sich entgegenhalten, dass die Schutzfunktionen, die den betreffenden Einrichtungen vormals zufielen, mittlerweile durch ein ausgeklügeltes System neuer Instanzen, neuer Gesetze und neuer Sachwalter wahrgenommen werden. Wenn Arbeitnehmerinnen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz durch einen Rechtsanwalt statt durch ihren gewerkschaftlichen Vertrauensmann verteidigt werden, kommen sie dann nicht auch zu ihrem Recht? Und ist es nicht gleichgültig, ob Gesetze oder gewerkschaftliche Vertragsbestimmungen für Sicherheit und Gesundheit im Betrieb sorgen?

Schutz vor Repressalien

Mit der Ersetzung des Modells einer kollektiven Wahrung gemeinsamer Interessen durch das Konzept einer rechtlich fundierten Regulierung von Arbeitsverhältnissen treten indes Probleme auf - nicht nur in den USA, sondern weltweit. Zu diesen Problemen zählt erstens die Durchsetzung rechtlicher Ansprüche. Das mit Gesetzesregelungen operierende System ist einfach nicht imstande, Millionen von Arbeitsstätten verwaltungstechnisch in den Griff zu bekommen. Heute müssen Gegner der Ausbeutung und Verfechter der Menschenrechte einsehen, dass tatsächlich keine in sich stimmige Regelung von Arbeitsverhältnissen möglich ist, wenn man nicht die Arbeitnehmer selbst zu Wort kommen lässt; diese wiederum bleiben stumm, solange sie nicht irgendeine Einrichtung haben, die sie vor Repressalien schützt, wenn sie den Mund aufmachen.

Zweitens leidet diese auf dem Rechtsweg sich vollziehende Ausbildung von Arbeitnehmerrechten darunter, dass sie zwangsläufig von oben geschieht. Wie gut auch geplant, staatliche Regulierung nimmt den unmittelbar Betroffenen die Auseinandersetzung aus der Hand, fördert den Einfluss der Bürokratie, macht die zuständigen Experten zur Zielscheibe der Ressentiments sämtlicher Beteiligter und führt am Ende gleichermaßen zu einer verstärkten Prozesswut und zur Unterminierung der Legitimität der Behörden.

Drittens hat der Rechtsanspruchsdiskurs praktisch keine Auswirkungen auf die Struktur der Industrie beziehungsweise der Beschäftigungsverhältnisse. Eine Demokratisierung des Arbeitsplatzes auf dem Wege der Durchsetzung von Rechtsansprüchen muss versagen, wenn sie das Kapital mit Forderungen konfrontiert, die sich nicht als gesetzlich verbürgtes Mandat fassen lassen. Während in den USA die Arbeitnehmer ihre neuen, der Bürgerrechtsbewegung entspringenden Rechte dazu nutzen, das Geschlechterverhältnis und das hierarchische Verhältnis zwischen den ethnischen Gruppen zu demokratisieren, müssen sie gleichzeitig zusehen, wie ihre ökonomische Sicherheit und ihre beruflichen Chancen durch dramatische Veränderungen ihrer Arbeitsbedingungen untergraben werden, auf die sie so gut wie keinen Einfluss mehr haben.

Wenn die weltweite Gewerkschaftsbewegung dem Schicksal entrinnen soll, das sie in den USA ereilt hat, und sich in einer Welt behaupten will, die auf die Menschenrechte schwört, ist zweierlei nötig. Erstens müssen sich die Gewerkschaften selbst als Vorkämpfer solchen Rechtsbewusstseins profilieren, um zu verhindern, dass es die Konzerne, die Befürworter des freien Markts oder auch die regierungsunabhängigen Menschenrechtsorganisationen als ihr Anliegen mit Beschlag belegen. Um wieder Tritt zu fassen, braucht die Gewerkschaftsbewegung in der Tat die Bürger- und Menschenrechte und deren nachdrückliche Durchsetzung an jedem Arbeitsplatz rund um die Erde.

Libertärer Individualismus

Wie das Beispiel der USA zeigt, können sich die Menschenrechtsforderungen ohne ein mutiges, gesellschaftsgestaltendes politisches und soziales Programm in Richtung eines libertären Individualismus entwickeln.

Der Kongress der Industriegewerkschaften in den dreißiger Jahren in Amerika, das Reformprogramm der britischen Labour Party im Jahre 1945, die Entwicklung der südafrikanischen Gewerkschaften unter der Apartheid und die Solidarnosc-Bewegung in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts - all diese Vorgänge zeigen, dass eine Erneuerung der Arbeiterbewegung mit einer Neubestimmung des nationalen Projektes steht und fällt. In Europa weiß man das vielleicht längst, aber in den USA stellt dies ein Vorhaben dar, für das zu kämpfen wir gerade erst angefangen haben.

Nelson Lichtenstein ist Professor an der University of California in Santa Barbara und lehrt Gewerkschaftsgeschichte der USA sowie US-Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Vorabdruck aus der Zeitschrift "Transit - Europäische Revue", Heft 24 (Winter 2002, Verlag Neue Kritik, Frankfurt/M.), das den alten und neuen sozialen Bewegungen im Zeitalter der Globalisierung gewidmet ist.

Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz.

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