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Josef Smolle hat sich kürzlich an dieser Stelle kritisch über den Rückzug des Staates aus immer mehr Bereichen geäußert (Nr. 47/20. 11.). In der folgenden Replik hält michael prüller, Wirtschaftsressort-Leiter der "Presse", dagegen: "Im Zweifelsfall für den Rückzug".

In der Furche hat kürzlich Josef Smolle den Rückzug des Staates beklagt. Sein Beitrag hat sich wohltuend von der gängigen "Mehr Staat - weniger privat"-Rhetorik unterschieden, allein schon dadurch, dass Smolle auf den durch Überdehnung völlig ausgeleierten Begriff "neoliberal" verzichtet. Smolle führt den von ihm konstatierten Rückzug des Staates auf zwei von ihm als grundfalsch kritisierte Annahmen zurück: Dass erstens "der Markt alles am besten regulieren könnte, wenn man ihn nur in Ruhe arbeiten ließe" und zweitens "Private immer günstiger seien als öffentliche Institutionen". Diese Beobachtungen scheinen mir jedoch als Unterstellungen übertrieben und führen zu falschen Schlüssen. So gibt es den von Smolle beklagten Rückzug des Staates so eindeutig gar nicht. Und ich möchte hinzufügen: leider.

Nicht günstiger - effizienter

Um bei der Privatisierung anzufangen: Private sind nicht unbedingt "günstiger" als öffentliche Institutionen, aber in der Regel effizienter, was soviel heißt wie: besser in der Lage, Güter und Dienstleistungen sparsamer und den Kundenwünschen angemessener zur Verfügung zu stellen. Der Grund dafür ist nicht in erster Linie, wie Smolle andeutet, der Konkurrenzdruck. Den kennen ja auch viele staatlichen Unternehmungen: Selbst die ÖBB steht im Wettbewerb mit der Straßenspedition und dem Individualverkehr. Auch stehen öffentliche Schulen untereinander und mit privaten Schulen in Konkurrenz.

Doch wirkt Konkurrenz auf einen Unternehmer anders als auf einen Politiker oder Bürokraten, hinter denen die riesigen Geldmittel des Staates und die Möglichkeit des obrigkeitlichen Zwanges stehen. Bürokratiedefizite sind eingehend untersucht worden. Das Naheverhältnis von Politik und Verwaltung verhindert oder verzögert oft ein rechtzeitiges Eingreifen der Eigentümer. Die Beobachtung, dass man mit Übereifer eher auf die Nase fallen kann als mit Nichtstun, führt zu chronischer Unterinvestition oder in teure "More of the same"-Politik. Die Sensoren der Entscheidungsträger sind eher auf die politische Sphäre und deren Wünsche als auf den Konsumenten gerichtet. Ein Unternehmer, der so handelt, ist bald mitsamt Unternehmen weg vom Fenster. Ein Bürokrat nicht.

"Das Problem der Verkehrsstaus wäre sofort gelöst, wenn der Staat für das Autoangebot und die Privatwirtschaft für das Straßenangebot zuständig wäre" - hinter dem alten Spruch blitzt viel Lebenserfahrung auf. In Wirklichkeit sind Private aber nur in der Regel, nicht jedoch immer effizienter. Man sollte etwa die Wirkung des Berufsethos der "Staatsdiener" nicht unterschätzen. Im Regelfall hat sich aber Konkurrenzdruck als das beste Mittel erwiesen, um auch von öffentlichen Institutionen optimale Leistung zu erzwingen. Was natürlich überall dort problematisch ist, wo es keine Konkurrenz gibt, weil der Kunde keine Wahlmöglichkeit hat - aus der Natur der Sache heraus, oder wegen obrigkeitlicher Einschränkungen.

Womit wir beim Markt sind, der angeblich "alles am besten regulieren könnte". Das ist aber schon im Ansatz ein Unsinn. Der Markt ist kein Instrument oder eine Maschine, die etwas reguliert, sondern eine Organisationsform des Austausches: Wer etwas verkaufen oder kaufen will, tut dies nach eigenem Gutdünken und zu selbst ausgehandelten Bedingungen. Markt ist also das Gegenteil von Zwang. So schrieb etwa Ludwig von Mises, dass die Herrschaft des Marktes "nicht bedeutet: Lasst seelenlose mechanische Kräfte ans Werk. Es bedeutet: Lasst jede Person selbst entscheiden, wie sie in der sozialen Arbeitsteilung kooperieren will. Lasst die Käufer bestimmen, was die Unternehmer produzieren sollen."

Dieses freie Spiel von Angebot und Nachfrage ist besser als jede Kommandowirtschaft dazu geeignet herauszufinden, was den Menschen welche Güter und Dienstleistungen wert sind und beugt somit teuren Fehlbewertungen vor. Und es lässt durch die ungezwungene Kooperation unzähliger eigenständig denkender und handelnder Menschen die reichste Entfaltung von Tatendrang und Erfindungsreichtum zu. Was jedoch gerne von Marktkritikern wie -euphorikern übersehen wird: Die wichtigsten Voraussetzungen für ein produktives Chaos freier menschlicher Einzelentscheidungen sind die Herrschaft des Rechts und das Vorhandensein von Wahlmöglichkeiten. Funktionierende Märkte sind also auf einen stabilen Rahmen angewiesen, und hier ist wiederum der Staat gefordert.

Rückzug ist ein Trugschluss

Weder Konkurrenzdenken noch Markt sind also Widersprüche zu staatlichem Handeln. Und damit sind wir beim vorletzten Punkt: Der Staat zieht sich gar nicht zurück. Er versucht höchstens, seine Aufgaben effizienter und intelligenter zu lösen: Indem er Anreize für Eigeninitiative schafft. Nicht nur, aber vor allem auch dort, wo er als Unternehmer mit sich selbst schlechte Erfahrungen gemacht hat, oder wo - etwa bei der Sozialversicherung - ein sonst ungebremster Ausgabenanstieg einem Einnahmenschwund gegenüber stehen würde.

Seit jeher Koexistenz

Nehmen wir etwa die Gesundheitsvorsorge, wo seit jeher öffentliche und private Institutionen koexistieren, teils in Konkurrenzverhältnis, teils monopolistisch, teils mit marktwirtschaftlichen Preisbildungsverfahren, teils mit staatlicher Preisfestsetzung. Wer wollte hier sagen, dass ein bestimmter Einzelteil dieses Systems zwingend von Amts wegen zu führen ist? Staatliche Aufgabe ist es doch, mit welchen Akteuren auch immer, die Gesundheitsversorgung auf bestem Niveau mit den dafür geringst möglichen Kosten sicherzustellen. Wenn in Erledigung dieses Auftrags die eine oder andere Struktur mit mehr Wahlfreiheiten für den Bürger oder mit einem Schuss privatem Gewinnstreben versehen wird (und das auch nicht immer mit Erfolg), ist das noch lange kein Rückzug des Staates.

Ähnliche Beispiele finden wir allerorten, wenn wir genauer hinsehen: Wenn etwa der österreichische Staat Prämien für die Eigenvorsorge zahlt und gleichzeitig das öffentliche System zurückschneidet, sprich: leistbarer macht, ist dies keinesfalls eine Aufgabe der Staatspflicht, für ein funktionierendes Pensionssystem zu sorgen, sondern im Gegenteil Wahrnehmung dieser Pflicht.

Ich habe in Smolles Kommentar kein Beispiel gefunden, das dem widersprechen würde. Die Regelung von "Giftemissionen einer Fabrik" etwa war - seit man um ihre Gefährlichkeit weiß - nie den "Marktkräften" überlassen. Schließlich handelt die Fabrik ja nicht mit Gift. Aber selbst hier kann der Staat mit der Etablierung von Märkten seine Ziele effizienter verfolgen - Stichwort Kyotoziel Emissionshandel. Und warum deuten private Wachdienste oder privatisierte Gefängnisse auf eine, wie Smolle sagt, "lückenhaft" werdende staatliche Verantwortung hin? Natürlich ist der Betrieb eines Gefängnisses oder das Tragen von Schlagstöcken eine heikle Angelegenheit, prinzipiell ist es aber nichts anderes, als wenn der Staat zur Straßeninstandhaltung eine private Firma beauftragt oder seine Panzer von Shell betanken lässt. Lückenhaft wäre die Verantwortung, wenn der Staat das Faustrecht wieder einführte, was gewissermaßen eine Privatisierung des Strafrechts wäre.

Tatsächlich gibt es die Schule der Anarcho-Kapitalisten, die den Nachweis führen wollen, dass Kontraktbeziehungen der Einzelakteure immer besser funktionieren als staatliche Obrigkeit. Und es gibt jene, die, auf einem unrealistischen Menschenbild aufbauend, Unsinn reden (wie etwa Alan Greenspan, der sich als junger Wirtschaftswissenschaftler gegen Konsumentenschutz aussprach, weil jeder gute Unternehmer selbst am meisten Interesse an der besten Qualität seiner Produkte habe). Aber all diese Vorstellungen spielen in der Rhetorik der "Neoliberalismus"-Gegner eine wesentlich prominentere Rolle als in der politischen Wirklichkeit.

Staatsquoten steigen

Es gibt einen guten empirischen Maßstab: den Anteil der Staatsausgaben und Staatseinnahmen am Bruttoinlandsprodukt. Diese Staatsquoten haben in fast allen Industrieländern nach einem langjährigen ungebrochenen Trend nach oben in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre eine Stagnation erlebt und steigen in den meisten Fällen seit dem Ende des Jahrzehnts wieder an. Und selbst dort, wo gegenläufige Trends zu beobachten oder (wie in Österreich) angekündigt sind, handelt es sich nur um winzige Schrittchen zurück. An seinem Betriebskapital ist eine Schwindsucht des Staates jedenfalls nicht zu erkennen.

Ein anderer empirischer Indikator für die Staatsaktivität sind Zahl und Umfang der Gesetze. Auch hier ist kein Rückgang zu beobachten. Heute und morgen kümmert sich der Staat noch detaillierter in noch mehr Aspekten um unseren Alltag. Auch um den der Wirtschaft. Er handelt nicht mehr mit Edelstahl oder produziert Zigaretten, aber er hat gerade (im neuen Gleichbehandlungsgesetz) neue Regeln für die Personalaufnahme in Privatunternehmen aufgestellt. Beide Beobachtungen verweisen das Vorurteil, in der globalisierten Welt könnten die Unternehmen den Regierungen ihre Arbeitsbedingungen diktieren, ins Reich der Phantasie.

Vorsichtiger Optimismus

Und auch wenn Josef Smolle zuzustimmen ist, dass verantwortliche Bürger nicht nur jeden Vormarsch, sondern auch jeden Rückzug des Staates hinterfragen müssen, so möchte ich doch ein "Im Zweifelsfall für den Rückzug" deponieren. Aus Vorsicht und aus Optimismus. Aus Vorsicht: Wo eine Regierung und eine Bürokratie außer Kontrolle geraten, sind sie tausendmal verheerender als jeder noch so böse Privatkonzern. Und selbst wenn es nicht zu Zuständen kommt wie in den faschistischen Systemen Deutschlands oder der Sowjetunion, so sorgen die Mechanismen von Wahlversprechen und Beamtenapparat dafür, dass die schleichende Ausdehnung der Staatsgewalt die Regel und das Beschneiden die Ausnahme ist. Die es daher zu unterstützen gilt.

Freilich, um als Christ diesen Standpunkt vertreten zu können, muss man von dreierlei überzeugt sein: Dass auch ein schlanker Staat ein solidarischer sein kann. Dass ein Rückzug an staatlicher Aktivität zu mehr Freiheit und nicht zu mehr Abhängigkeit (nur eben jetzt von privaten Institutionen) führt. Und dass die Menschheit nicht gleich in die Irre geht, wenn sie in die Freiheit entlassen wird.

Kein Zweifel, Freiheit kann desillusionierend sein: Ein marktwirtschaftliches Fernsehsystem hat uns nicht mehr Opernübertragungen, sondern mehr Taxi Orange und Vera gebracht. Der große katholische Soziallehrer Oswald von Nell-Breuning hat schon vor Jahren über den Kapitalismus gesagt, dass er zwar ungeheuer effizient und billig Güter zur Verfügung stellt - "aber sind das auch die richtigen Güter"? Aber auch wenn man konzediert, dass die Frage der Verführbarkeit des Menschen im politischen Diskurs derzeit unterbelichtet ist - in wessen Namen darf sich heute eine Bürokratie oder eine Regierung berufen fühlen, uns Konsumenten Vorschriften zu machen, was gut und richtig für uns ist?

Ist der Mensch nicht dazu berufen, in Freiheit die richtigen Entscheidungen zu treffen? Ist es daher nicht letzten Endes gut, wenn jeder von uns selbst wieder mehr Verantwortung übernimmt und wir vom Staat auch die Mittel und den Freiraum dafür zurückerhalten? Und hier mein Optimismus: Ich glaube, dass wir dieser Aufgabe gewachsen sind.

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