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Dass Suchterkrankungen etwas mit dem Rausch zu tun haben, würden wohl die meisten unterschreiben. Dass der Rausch jedoch auch vor der Sucht schützen kann und somit sogar zur Prophylaxe eingesetzt werden könnte, klingt zunächst jedoch paradox. Suchtphänomene lassen sich gut verstehen, wenn sie von der Erfahrung eines "substanzfreien" Rausches her ausgelegt werden. Doch was ist der Rausch genau, wenn er philosophisch gedacht und unter die Lupe genommen wird?

Jedenfalls eine Art von Begeisterung, Verzückung, Ekstase: Erfahrungen wie der Liebesrausch, Kauf-, Kampf-, Blut-, Gold-, Arbeits- oder Siegesrausch haben eine Gemeinsamkeit - der Betroffene wird vom Rauschphänomen gleichsam aufgesogen. Im Liebesrausch werden die Liebenden ganz die Liebe. Sie strahlen die beglückende Erfahrung bis in ihre letzte Pore aus, was man leicht an frisch Verliebten beobachten kann. Im Arbeitsrausch, um ein weitaus nüchterneres Beispiel zu bringen, gehen die Arbeitenden ebenso ganz in der Arbeit auf. Die Stimmung ist gehoben; alles geht leicht von der Hand. Jede Entscheidung, alle Erledigungen fallen leicht. Es scheint, als würden einem die Dinge zufliegen. Arbeit wird im Arbeitsrausch nicht als Last, sondern als Spiel erlebt. Der Rausch ist eine Erfahrung, in der man sich, wie die Psychologen sagen, als "selbstwirksam" erlebt. Der Berauschte fühlt sich stark, tatkräftig und unangreifbar: Die Alltagssorgen, ja der Alltag schlechthin, scheint bedeutungslos zu sein. Und der Rausch bringt eine Erfahrung der "Seinssteigerung" mit sich: Alltagsängste, Sorgen und Bedenken vermögen das Ich nicht mehr zu tangieren.

Der Rausch ist damit ein Paradebeispiel für eine Phase guter Selbstvergessenheit, in der man vom "Lastcharakter" des Lebens befreit ist. Ein zwanghaftes Grübeln weicht in der rauschhaften Begeisterung der spontanen Handlung. Der befreiende Entschluss wird als richtig und stimmig erlebt. Dem Berauschten erschließt sich eine nüchtern eventuell als bedrohlich oder bedrückend erlebte Situation. Die rauschhaft induzierte Entschlossenheit schließt überhaupt alles Verschlossene auf -Situationen und Menschen. Im Rausch kommen die gehemmten Lebenskräfte zur Entfaltung.

Nietzsche und Platon: Philosophen als Rauschtheoretiker

Wenn man sich fragt, was dieses Phänomen denn eigentlich leisten kann, ist man gut beraten, die wahrscheinlich bedeutendsten Rauschtheoretiker der abendländischen Philosophie - Nietzsche und Platon - zu Rate zu ziehen. Friedrich Nietzsche sieht im Rausch vor allem Machtsteigerung und ein Stimulans des Lebens. Macht darf man hier aber nicht als Negativphänomen, im Sinne der Gewaltausübung über andere, verstehen. Vielmehr führe der Rausch zu Fülle und Kraftsteigerung, so wie die Sonne eine überreiche Macht ist, die überfließt und Leben erst ermöglicht: "Der Lustzustand, den man Rausch nennt, ist exakt ein hohes Machtgefühl", behauptet Nietzsche.

Genau diese Erfahrung sei in der Kunst gefordert: Denn der Künstler benötige einen ganz besonderen Blick und müsse daher eine außer-alltägliche Perspektive einnehmen. Künstler sollten immer wieder unter einer Art Inspirationsrausch stehen, bemerkt der deutsche Philosoph: "Die Künstler sollen nichts so sehen, wie es ist, sondern voller, sondern einfacher, sondern stärker: dazu muß ihnen eine Art Jugend und Frühling, eine Art habitueller Rausch im Leben eigen sein." Ohne Rausch auch keine Kunst - so könnte man Nietzsches ekstatische Artisten-Metaphysik auf den Punkt bringen. "Unter dem Zauber des Dionysischen" wird der Mensch sogar selbst zum Kunstwerk, wie es in seiner Tragödienschrift heißt.

Der antike Philosoph Platon, Nietzsches großer ideeller Gegner, hingegen bekam die Leistungskraft des Phänomens vor allem anhand der Liebe und der Verliebtheit zu fassen. Platon nennt in seinem Dialog "Phaidros" vier Arten rauschhafter Begeisterung und meint sogar, dass "die größten aller Güter uns durch den Rausch zuteil werden."

Aus platonischer Sicht gibt es zunächst den mantischen Rausch, der den Sehern und Wahrsagern zu eigen ist. Wer in die Zukunft blicken will, muss den Kerker des Ichs verlassen und in die Ferne wandern, um berichten zu können, was kommen wird. Wer wiederum mit den Göttern kommuniziert, erfährt zwangsläufig eine Art Verzückung, denn das Gespräch mit den numinosen Mächten lässt niemanden nüchtern und kalt. Der Dialog, durch den Menschen und Götter in Beziehung treten, steht somit unter dem Stern der mystischen Ekstase. Drittens nennt Platon den poetischen Rausch, ausgelöst durch den Kuss der Musen, ohne dem die Dichter bloß Stammler und Stotterer wären. Und viertens, die wichtigste Form der Berauschung überhaupt: der erotische Rausch. Im Zustand der Erotisierung und Verliebtheit erlebt sich der Mensch heil und versöhnt. Die Welt wird zur Heimat. Alles strahlt, glänzt und leuchtet. In der Anwesenheit des Eros ist das Leben, ohne Einschränkung, lebenswert. Der Schleier der Täuschung fällt: Die Welt zeigt sich als wahr, schön und gütig. Das ist der bekannte platonische Topos.

Nüchterne Trunkenheit und drogenfreie Ekstase

Wenn man subsumiert, was dem Rausch in der Philosophiegeschichte alles zugetraut wird, lassen sich vor allem folgende Qualitäten destillieren: Er befreit vom neurotischen Denken, bewirkt eine wohltuende Selbstvergessenheit und affektive Katharsis. Er führt zur Kraftsteigerung und erhöht die Selbstwirksamkeit (Nietzsche). Er durchbricht die Automatisierung der Wahrnehmung; es erfolgt eine Vitalisierung und Lebenssteigerung; ja es werden einem sogar ideelle Güter zuteil (Platon). Wenn es stimmt, dass der Rausch all das theoretisch zu leisten vermag, dann gibt es eine Reihe von Mangel-und Dürreerfahrungen, für die er eine Lösung sein könnte. Wer unter Niedergeschlagenheit leidet, bedarf seiner stimmungsaufhellenden Wirkung. Wer mit Selbstunsicherheit und Leblosigkeit kämpft, braucht seine vitalisierende Kraft. Wer verklemmt ist, wird durch die Leistung der Ekstase, der Fähigkeit zum "Aus-sich-heraus-Treten", befreit. Und wer gedanklich um seine Probleme kreist, wird vorübergehend durch Selbstvergessenheit erlöst.

Man könnte sogar so weit gehen und argumentieren, dass im Rausch eine Art Therapeutikum der Sucht liegt. Der österreichische Künstler und Kunsttheoretiker Peter Weibel hat einmal gemeint: "Wo das Leben selbst eine Entziehungskur ist, gedeiht der Boden für die Sucht. Wo die Lebenssehnsucht nicht gesättigt wird, füllt die Drogensucht den leeren Raum." In unseren Zusammenhang übersetzt hieße das: Wo das Leben selbst alles andere als berauschend ist, herrscht Suchtgefahr. Im Sinne der Suchtprävention und -therapie müsste man daher den Rausch empfehlen - und die nüchterne Trunkenheit (sobria ebrietas) sowie die drogenfreie Ekstase gleichsam als Medikamente gegen die verschiedenen Formen der Abhängigkeit verschreiben.

Der Autor ist Philosoph und Psychotherapeut am Anton Proksch Institut sowie Dozent an der S. Freud Univ. Wien

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