Töten, ganz alltäglich

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Eine Studie über die Euthanasie-Praxis in den Niederlanden deckt auf: Mit dem Leben sterbenskranker Patienten wird erschreckend locker umgegangen.

Auch bei ihm war es der Hausarzt. Als Edward Brongersma, bekannter niederländischer Politiker, mit 86 Jahren genug vom Leben hatte, rief er seinen Hausarzt zu sich. Dieser brachte ihm die gewünschte tödliche Dosis Gift für den "schönen Tod". Brongersma war zwar nicht krank, hatte sich aber alt und einsam gefühlt und wollte sterben. Euthanasie bei einem Gesunden? Der Arzt wurde dennoch frei gesprochen.

Hier lag nicht Beihilfe zum Selbstmord bei einem Gesunden vor, sondern das Recht auf Sterben bei alten Menschen, die keinen Lebenssinn mehr sehen, so die Begründung. Das war 1998. Schon 1994 hatte der Oberste Gerichtshof mit dem Fall Chabot ein Exempel statuiert: Der Psychiater Chabot hatte einer lebensüberdrüssigen, depressiven Frau eine tödliche Medikamentendosis übermittelt, die sie unter seiner Kontrolle einnahm. Auch er wurde freigesprochen.

Ärzte sind pro Sterbehilfe

Seit April 2001 hat sich die Lage in den Niederlanden, das als weltweit erstes Land die aktive Euthanasie legalisierte, verschärft. Nur Belgien ist dem Nachbarstaat inzwischen gesetzlich gefolgt. Wie es in der Praxis mit der Handhabe und Haltung zur Euthanasie unter holländischen Ärzten steht, zeigt eine in der renommierten Fachzeitschrift The Lancet jüngst publizierte Vergleichsstudie. Sie erfaßt die Jahre 1990, 1995 und 2001, in denen jeweils rund 400 Ärzte in detaillierten Fragebögen zu ihrer Euthanasie-Praxis Stellung nahmen.

Die Studie verrät einiges. 57 Prozent der niederländischen Ärzte haben bereits aktive Sterbehilfe geleistet. Die berufsethische Gewissenskurve fällt kontinuierlich: 99 Prozent der Ärzte sind bereit, selbst Sterbehilfe durchzuführen. 1990 stemmten sich immerhin noch vier Prozent der Ärzte gegen eine aktive Beteiligung an Euthanasie, 1995 waren es zumindest drei Prozent, 2001 blieb bloß ein Prozent Mediziner übrig, die es in ihrer Berufspraxis ablehnen, letzte Herren über Leben und Tod zu sein. Damit bestätigt sich die Befürchtung: Gesetze legalisieren nicht nur bereits Praktiziertes, sondern verstärken ihrerseits die Realität, aus der heraus sie entstanden sind. Die Hemmschwelle zum Töten wird, so ist zu vermuten, proportional zur Legalisierung weiter sinken. Nicht verwunderlich: In den Niederlanden hat die aktive Sterbehilfe ja schon seit den achtziger Jahren Tradition.

Untersucht wurden im Rahmen der aktuellen Lancet-Studie 5.617 Todesfälle aus dem Jahr 2001. Gegenüber 1995 wird deutlich, dass die Zahl der offiziellen Euthanasie-Toten steigt. 3,5 Prozent aller Todesfälle in Holland gehen auf aktive, direkte Sterbehilfe zurück. Im Jahr 2001 kamen 4.913 Menschen durch Menschenhand ums Leben. Das sind knapp 500 Fälle mehr als 1995. Zum Vergleich: 1990 waren es knapp 3.000.

Die Zahlen setzen sich zusammen aus "Euthanasie", "Beihilfe zum Selbstmord" und "lebensbeendigende Maßnahmen ohne Einwilligung des Patienten". Letzteres ist wohl der dunkelste Fleck der Statistik. In rund 1.000 Fällen gaben Ärzte zu, ihre Patienten ohne deren Einwilligung getötet zu haben.

Auch ohne Patientenwunsch

Unter dem Titel "Lebensbeendigung ohne ausdrücklichen Wunsch" dokumentieren Statistiken dieses Phänomen bereits seit 1991. Die Zahl beläuft sich jährlich auf rund 1.000 Menschen. Doch sogar jetzt, wo die aktive Sterbehilfe legalisiert ist, halten sich Ärzte offenbar nicht an die sich selbst auferlegten Kriterien. Wenn schon unter 400 befragten Ärzten 1.000 unfreiwillige Gnadentode zu verzeichnen sind: wie hoch liegt dann die tatsächliche Zahl?

Unter Ärzten bestehen immer noch Hemmungen, diese prekären Fälle zu deklarieren. Denn auch das neue Gesetz hält fest, dass der Patient den Wunsch nach Sterbehilfe mehrfach deutlich geäußert haben muss. Dass im Zeitalter der Selbstbestimmung des Patienten in dieser Sache noch kein Aufschrei des Europäischen Menschengerichtshofes zu hören war, verwundert.

Als Gründe für die Entscheidung, Menschen auch ohne deren Zustimmung ins Jenseits zu befördern, gaben die Ärzte in der anonym durchgeführten Lancet-Studie an: "Jede medizinische Maßnahme aussichtslos", "keine Aussicht auf Besserung", "die Nächsten konnten es nicht mehr ertragen" oder eine ihrer Einschätzung nach "geringe Lebensqualität". Eine erschreckende Vorstellung ist in den Niederlanden Realität: Was als "unerträgliches Leiden" gelten soll, bestimmt der Arzt.

Nicht mehr behandeln

Eine andere Dunkelziffer verbirgt sich hinter dem Wort "passive Euthanasie". Der Tod des Patienten wird nicht direkt, aber indirekt herbeigeführt - und zwar mit Absicht. Das kann durch Verweigerung lebenswichtiger Substanzen wie Sauerstoff, Essen oder Trinken geschehen, oder durch Verabreichung von Medikamenten mit lebensverkürzenden Nebenwirkungen bzw. die Entscheidung, nicht mehr zu behandeln. Die Grenzen zur legitimen medizinischen Praxis werden im allgemeinen Sprachgebrauch verwischt.

Der Entschluß, eine aussichtslose Behandlung bei Sterbenden zu unterbrechen, ist Teil einer guten medizinischen Praxis. Jede Nicht-Behandlung oder Vergabe von Morphinen zur Schmerzlinderung mit einer indirekt intendierten Tötung gleichzustellen, ist eine Begriffsverzerrung. Bereits der "Remmelink-Report", eine Studie, die 1991 im Auftrag der niederländischen Regierung durchgeführt wurde, zeigte, dass Ärzte in 10.575 Fällen mit Tötungsabsicht eine Behandlung abgebrochen oder ein Medikament überdosiert haben - ohne Einwilligung des Kranken.

Praktisch keine Kontrolle

Ob Mediziner oder Psychiater gesetzeskonform gehandelt haben und somit straffrei bleiben, entscheidet dem neuen Gesetz zufolge nicht wie bisher der Staatsanwalt, sondern eine Kommission aus Juristen, Medizinern und Ethikern. Der Staat hat praktisch keine Kontrolle mehr. Bereits seit 1998 prüfen diese Gremien die Euthanasiefälle nach Aktenlage. 2.565 "schöne Tode" haben sie bislang untersucht und nach eigener Auskunft fast keinen Grund zur Beanstandung gefunden.

So manch holländischem Bürger scheint dabei nicht mehr ganz wohl zu Mute. Einige wandern in der Spätphase ihrer Krankheit nach Deutschland ab, um sich dort behandeln zu lassen - ohne lebensbeendende Maßnahme. Andere tragen einen Ausweis, die "Credocard", bei sich, in der sie sich ausdrücklich dagegen aussprechen, euthanasiert zu werden.

Davon steht in der jüngsten Lancet-Studie nichts. Eines Faktors scheinen sich die Ärzte aber bewußter zu werden: 15 Prozent der Ärzte befürchten, dass der Druck zum Töten wächst, je mehr der Staat seinen finanziellen Gürtel im Gesundheitsbereich enger schnallen muss. 1990 glaubten das erst neun Prozent.

Die Autorin ist freie Journalistin.

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