Wolfgang Meixner - © Foto: Universität Innsbruck

Tourismus in Tirol: "Die großen Bauern als Hoteliers"

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Wolfgang Meixner forscht zur Entwicklung des Tourismus in Tirol. Ein Gespräch über Kitzbühels Strahlkraft, das dörfliche Patriarchat und die Treue der Deutschen.

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Wolfgang Meixner forscht zur Entwicklung des Tourismus in Tirol. Ein Gespräch über Kitzbühels Strahlkraft, das dörfliche Patriarchat und die Treue der Deutschen.

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Wolfgang Meixner – Leiter des Arbeitsbereichs Wirtschafts- und Sozialgeschichte am Institut für Geschichtswissenschaften der Uni Innsbruck – beschäftigt sich mit der Agrar- und Tourismusgeschichte Tirols. In der FURCHE erklärt er, inwiefern der Klimawandel den Fremdenverkehr beeinflusst, warum die Industrie im Land unterschätzt wird und inwiefern in der Vergangenheit Frauen vom Tourismusboom profitieren konnten.

DIE FURCHE: Die Rolle des Tourismus in Tirol sorgt nicht erst seit Corona für Debatten. Wie dominant ist die Branche, und wie groß ist die Abhängigkeit von ihr tatsächlich?
Wolfgang Meixner: Die Situation ist komplex. In puncto Arbeitsplätze hat der Tourismus eine starke Position. Aber wir haben im Inntal durchaus große Indus­triebetriebe mit hoher Wertschöpfung. Das Ziel der ÖVP nach 1945 war, über den Tourismus einer Entsiedelung der Täler entgegenzuwirken, indem man versuchte, dort Arbeitsplätze zu schaffen. Und der Tourismus bringt viel Zuarbeit für andere Gewerbe, damit entsteht ein System, das durchaus bedeutend ist. Aber man übersieht im Schatten dessen häufig, dass es auch eine starke Industrie und eine große Dienstleistungsbranche gibt. So sind im Gastgewerbe und der Hotellerie in Tirol aktuell rund 28.000 Menschen beschäftigt, im verarbeitenden Gewerbe 54.000.

DIE FURCHE: Für sogenannte Tourismus­hotspots dürfte das nur bedingt stimmen ...
Meixner: Nehmen wir Sölden als größten Vertreter, wo eine Art Tourismusindustrie entstand. Da bleibt ohne Tourismus nur eine Gemeinde mit ein paar Tausend Einwohnern, ein paar Handwerkern und Gewerbetreibenden. Andere Gemeinden wie Galtür haben sich für eine moderatere, ausdifferenziertere Variante entschieden. Kitzbühel wiederum ist eine eigene Sache, quantitativ fällt das gar nicht so stark ins Gewicht, aber es ist eine Art Mondänentourismus, mit einer Strahlkraft weit über die Gemeinde selbst hinaus. Gemeinden wie St. Johann liegen im Umland, und da fällt ein bisschen etwas ab.

DIE FURCHE: Was waren die Auslöser für diesen „Tourismusboom“?
Meixner: Tirol hat schon lange einen Ruf als Bergland, mit guter Luft und schöner Natur. Bürgerliche Kreise beginnen bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Bergwandern. Skifahren begann um 1900 und zog Interessenten aus England und Deutschland an. Das, was wir heute als Tourismus verstehen, entsteht erst in den 1970er Jahren. Ein Großteil der Gäste kam aus Deutschland. Diese Urlaubsorte verzeichneten einen Aufschwung, als in Deutschland eine Mittelschicht entstanden ist, die reisen konnte, bezahlten Urlaub hatte und mobil war. Entscheidend war auch, dass deutsche Gäste sehr treu sind und gerne Familienanschluss suchen. Das hat Tirol mit seinem Pensions- und kleinen Ferientourismus geboten. Dadurch ist Anschluss entstanden, Gäste sind immer wieder gekommen.

DIE FURCHE: Wie haben sich die Wirtschafts- und die Sozialstruktur dadurch verändert?
Meixner: In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verzeichnete die Landwirtschaft, die lange Zeit der dominierende Sektor war, einen starken Rückgang. Menschen, die früher in der Landwirtschaft tätig waren, hatten drei Möglichkeiten: Sie wechseln in die Industrie, sie wandern aus, oder sie bauen sich etwas Neues auf. Dafür war der familiennahe Tourismus in Tirol, wo man ein Haus einfach mit ein paar Fremdenzimmern ausbauen konnte, sehr geeignet. Aus den Fremdenzimmern wurde dann eine Pension, später ein Hotel. In manchen Orten sind die größten Bauern oft die größten Hotelbesitzer.

DIE FURCHE: Hat von dieser Entwicklung die gesamte Bevölkerung profitiert?
Meixner: Der Wohlstand kam mit dem Geld aus dem Ausland, mit Devisen, mit der deutschen Mark und niederländischen Gulden. Vor allem Frauen, die diese Pensionen oft betrieben, hatten plötzlich Geld. Das war in einer patriarchalen Gesellschaft wie der damaligen eine interessante Entwicklung. Aber natürlich: Profitiert haben vor allem die, die vorher schon etwas hatten.

DIE FURCHE: Derzeit heißt es oft, der Tourismus steckt in der Krise …
Meixner: Man könnte überspitzt sagen: Der Tourismus steckt immer in der Krise. Aber die große Expansionsphase ist vorbei, es geht heute um qualitatives Wachstum. Zu kriseln begann es schon in den 1980ern, dann stagnierte es auf hohem Niveau, und seit rund 40 Jahren tritt man quasi seitwärts.

DIE FURCHE: Inwiefern wird der Klimawandel den Wintertourismus verändern?
Meixner: Für Orte wie St. Johann, die nicht sehr hoch liegen, könnte es knapp werden. Aber der Tourismus war schon immer sehr wandlungsfähig. Im Prinzip ist das ja keine Ungunstlage, in der St. Johann liegt. Das ist ein wunderschönes Tal, und früher sind die Leute dort auch eher gewandert und nicht Ski gefahren. Die Gegend könnte sich hin zu einem sanfteren, naturnahen Tourismus transformieren. Es gibt viele Möglichkeiten, sodass ich nicht glaube, dass der Klimawandel, konkret der Anstieg der Schneefallgrenze, große Probleme verursachen wird.

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