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Martin Pollack stellt in "Von Minsk nach Manhattan" elf eindrucksvolle polnische Reportagen vor.

Die Reportage schockierte ganz Polen. Im Jahr 2002 deckten zwei junge Reporter auf, dass Rettungsdienste in Lodz über Jahre Hinweise auf eingetretene Todesfälle an Bestattungsunternehmer verkauft hatten, wobei Notärzte und Sanitäter dem schwunghaften Handel mit Verstorbenen schließlich nachhalfen, indem sie aus Notfallpatienten mit falschen Medikamenten und unterlassener Hilfeleistung neuen Leichen-Nachschub machten.

Die makabre Geschichte über "Die Hautjäger von Lodz" von Tomasz Patora und Marcin Stelmasiak ist eine von elf Reportagen aus den Jahren 1992 bis 2005, die der österreichische Autor und Übersetzer Martin Pollack als Herausgeber im Band "Von Minsk nach Manhattan" versammelt. Sie alle entstammen dem sorgfältig gehegten Reportage-Ressort der 1989 gegründeten Warschauer Tageszeitung Gazeta Wyborcza. Sie legen eindringliches Zeugnis ab über die ungeheuer lebendige polnische Tradition der literarischen Reportage in der Nachfolge von Großmeistern wie Hanna Krall oder Ryszard Kapuscinski und zeigen, was die Reportage zu leisten vermag, wenn Publizistik und Literatur miteinander verschmelzen.

Eigene Sprache

Pollack hat Texte ausgewählt, in denen unter den Bedingungen von ausreichender Recherche-und Nachdenkzeit jedes Thema die ihm eigene Sprache und Form gefunden hat. Widersprüchliches darf bleiben, was es ist, ohne im Schreiben sofort einem Auflösungszwang unterworfen zu werden. In Wlodzimierz Nowaks "Von Wanda, die den Deutschen nicht wollte" etwa lässt sich "aus zwei feindlichen Versionen" einer gescheiterten Liebesgeschichte zwischen einer Polin und einem Deutschen zwar keine Wahrheit ableiten, wohl aber ein Abbild der heillosen Verstrickungen, in die Menschen sich begeben - zumal, wenn sie keine gemeinsame Sprache sprechen. Die Reportage selbst wird durch das Zeichnen dieser vielschichtigen Realität umso packender.

Der Sammelband spannt den Bogen weit - mitunter über die Grenzen Polens hinaus: Von Mariusz Szczygiels "Reality", das vom geheimen Mikrokosmos einer Frau erzählt, die 57 Jahre lang alles in ihrem Leben systematisch notierte, über Zdzislaw Wolniarowicz' Bericht einer vom Russifizierungs-Druck des Lukaschenko-Regimes in den Untergrund getriebenen weißrussischen Schule in Minsk, der - im Jahr 2005 geschrieben - klingt, als stamme er aus den Tiefen sowjetisch-stalinistischer Repression, bis hin zu Pawel Smolenskis "Beisetzung eines Mordbrenners" über das bis heute schwer belastete polnisch-ukrainische Verhältnis in der Gegend um Przemysl.

Genaue Beobachtungen

Wer die Reportagen liest, erfährt viel über Polens Träume und Dämonen nach der Wende, über latenten Antisemitismus ebenso wie über Auswüchse eines explodierten Haifisch-Kapitalismus oder polnische Arbeitsmigrantenschicksale in den USA. All diese atmosphärischen Beobachtungen im Großen schälen sich eindrucksvoll aus individuellen Dramen heraus. Man möchte neidisch werden auf die Polen, denen die Gazeta Wyborcza rund 300 solcher Texte pro Jahr liefert.

Von Minsk nach Manhattan

Hg. v. Martin Pollack. Aus d. Poln. v. J. Manc, M. Pollack und R. Schmidgall

Zsolnay Verlag, Wien 2006

269 Seiten, geb., e 22,10

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