Türkei: Reise in die Moderne - und zurück

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Die Freiheit eines Systems spiegelt sich bekanntlich auch in den kleinsten und feinsten Verästelungen einer Gesellschaft wider: in den alltäglichen Verrichtungen, dem, was der eine Nachbar dem anderen sagt oder sich zu sagen traut - und generell - wie man miteinander umgeht. Reden wir also über die kleinen Freiheiten in einem Land von bald schon 73 Millionen Menschen, das bald EU-Mitglied sein möchte.

Freiheit ist beispielsweise, wenn die Tochter des türkischen Premierministers Recep Tayyip Erdo˘gan ins Theater geht, um sich ein seit vier Jahren erfolgreiches Musical namens "Junger Osman“ anzusehen. Freiheit ist auch, wenn sie nach dem ersten Akt indigniert den Saal verlässt, weil ihr einer der Darsteller von der Bühne herab zublinzelte. So geschehen am 10. April. Aber ist es auch noch Freiheit, wenn die türkischen Staatstheater daraus eine "sofortige Untersuchung des Vorfalls“ ableiten mit dem Versprechen, alle "notwendigen Sanktionen gegen jene zu ergreifen, die sich störend gegen das Publikum verhalten haben“?

Solche kleinen Begebenheiten vertiefen die Sorgen über andere, größere Dinge, die man in den vergangenen Wochen aus Ankara und Istanbul hörte. Wenn etwa in Istanbul Tausende gegen die Verhaftung von einem guten Dutzend Journalisten demonstrieren müssen, die von der Staatsanwaltschaft verdächtigt werden, an einer Armeeverschwörung gegen die demokratisch gewählte Regierung mitgewirkt zu haben. Wenn Bespitzelung von Zeitungen und Parteien unter demselben Vorwand "Verschwörung“ ruchbar wird. Dann fragt sich Europa wieder einmal: Wendet sich die Türkei von Europa ab? Befindet sich der Staat etwa nicht in den Fängen der Ergenekon-Verschwörer, sondern eines ganz anderen - islamistischen - Netzwerkes. Ist der Islam-Lehrer, Fethullah Gülen, der eigentliche Feind der Freiheit?

Die Einschätzung von Gülens international tätiger Gruppe ist zu vielgestaltig, um eine eindeutige Antwort zuzulassen - zumindest nicht in diesem internationalen Bereich (siehe rechts).

Eindeutige Polarisierung

Doch die Vorgänge innerhalb der Türkei sprechen eindeutig gegen Gülen und für die Existenz eines vielleicht mindestens ebenso machtbewussten Netzwerkes wie jenes von Ergenikon - und auf die türkische Gesellschaft übersetzt - von einer immer schärfer zutage tretenden Polarisierung zwischen liberalen Laizisten und konservativen Moslems.

Letzter Beitrag dazu war die Verhaftung des Journalisten Ahmet ¸Sık am 3. März, der ein Gülen-kritisches Buch verfasst hatte, das den Großteil des Polizei- und Sicherheitsapparates mit Gülen und seinen Schulen in Verbindung brachte. Unbestreitbar ist auch, dass sich ebendieser Apparat verzweifelt bemühte, die Verbreitung des Manuskripts zu verhindern. Tatsache ist auch, dass die geballte Medienmacht der Gülen-Anhänger gegen die Verhafteten zu Felde zog - ohne Rücksicht auf Kollateralschäden.

Andrew Finkel, der britische Kolumnist der Gülen-freundlichen englischsprachigen Todays Zaman, wagte zu kommentieren: "Ein Buch gegen die Gülen-Gemeinschaft zu schreiben, ist kein Verbrechen.“ Finkel wurde fristlos entlassen. Da scheint er noch glimpflich davongekommen zu sein, denn anderen Journalisten und Aktivisten der Zivilgesellschaft ergeht es schlechter. Man braucht dazu nicht einmal die Gülen-Bewegung zu einer Bande von Verschwörern hochzustilisieren. In vielen Fällen scheint auszureichen, dass die Betroffenen die Regierung in Ankara offen kritisieren.

Aktionen gegen Medien

Wie von Geisterhand rücken sie alle in die Nähe der Staatsverschwörer von Ergenekon. Im März 2009 wurde der regierungskritische Cumhuriyet-Journalist Mustafa Balbay verhaftet. Im Februar dieses Jahres Soner Yalçın, der leitende Redakteur des größten unabhängigen Online-Nachrichtendienstes Oda TV, und drei andere Redakteure. Schon davor war es unter dem Vorwand von Ergenekon zu anderen Anklagen und Verhaftungen, zu Bespitzelung und Lauschangriffen gegen linke Politiker sowie solche der republikanischen CHP-Partei gekommen.

Ein Bericht der US-Organisation "Freedom House“ berichtet auch von Abhöraktionen gegen die unabhängigen Tageszeitungen Milliyet und Hürriyet, sowie von Richtern und Beamten - alles unter dem Vorwand, die Betroffenen stünden mit Ergenekon in Verbindung. Klare Beweise gegen die mittlerweile über 330 Verhafteten scheint es nur in wenigen Fällen zu geben.

Soner Cagaptay, ein aus der Türkei stammender für Foreign Policy und das Wall Street Journal arbeitender Analytiker, geht mit der Regierung Erdo˘gan hart ins Gericht. Er hält die gesamte Ergenekon-Verschwörung für eine inszenierte Aktion zur Entmachtung der Armee und aller dem Laizismus Atatürks verbundenen Kräfte: "Die Gülen-Bewegung hat eine politische Hexenjagd gegen ihre Gegner begonnen.“

Zumindest für eine konservative "Umfärbung“ wichtiger Staatsämter lassen sich Belege finden. Zuletzt sorgte Ende vergangenen Jahres eine Neuernennung in der einflussreichen "Anstalt für religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet), für Aufregung. Der Liberale Ali Bardako˘glu wurde auf Regierungsanordnung durch den konservativen Lehrer Mehmet Görmez ersetzt.

Dessen erste Amtshandlung war die Entlassung der für Frauenfragen zuständigen Ay¸se Sucu. Sucus Verfehlung dürfte darin bestanden haben, sich für eine modische Erleichterung im täglichen Gebrauch des Kopftuchs eingesetzt zu haben. Demnach sollte es möglich sein, das Tuch so zu tragen, dass der Haaransatz sichtbar sein könne. Es wäre so gesehen ein kleiner türkischer Schritt zu einer bedeutenderen europäischen Freiheit gewesen.

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