Über Grenzen zum VERMÄCHTNIS

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Die EU entstand aus der Kriegserfahrung. Wird sie an den aktuellen Krisen scheitern? Eine Antwort zum Morgen aus dem Wissen von Gestern.

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Die EU entstand aus der Kriegserfahrung. Wird sie an den aktuellen Krisen scheitern? Eine Antwort zum Morgen aus dem Wissen von Gestern.

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Und so sind wir - durch die Erfahrung klüger - Anwälte eines anderen Europa geworden, einer neuen wahrhaften Gemeinschaft aller europäischen und darüber hinaus der Nationen der Welt. Es ist Herbst. Vielleicht ein Spätherbst Europas. Wir beginnen aber, durch seine Nebel hindurchzusehen. Wir in unserem kleinen Lande, sind nicht die Welt, sind nicht Europa. Wir haben aber beiden etwas zu bringen: den Gedanken und den Willen zu einer großen europäischen Ordnung, in deren Dienst unser Land geworden ist."

Der dies schrieb, es war der 4. November 1950, hatte gelernt. Friedrich Funder hatte bittere Lektionen erfahren aus seiner eigenen Geschichte; aus dem Grabenkampf der Lager und Parteien in der ersten Republik, die er als Journalist mit beschrieben hat und deren Teil er war. Aus dem zum Teil selbst geübten Antisemitismus, aus der Kultur des Vorurteils und der Projektion, die die Erste Republik in den Bürgerkrieg getrieben hatte und in den Ständestaat und schließlich in die deutsche Okkupation. Er hat den Niedergang einer Nation und einer Kultur in Krieg und Rassenwahn als Gefangener erlebt. Und er hat das Ende der Diktatur zum Anlass genommen, selbst neu anzufangen. So wie auch Österreich fünf Jahre nach diesem Artikel Friedrich Funders seine zweite Existenz begann und bald darauf auch Europa 1956 seine ersten konkreten Formen annahm.

Funder, sag was!

Und immer wieder wünscht man sich beim Verfassen dieser Zeilen dieses weise Wort, aus dem diese Erfahrung spricht, die uns heute zu fehlen scheint. Zu den Zeitläufen, zu dem, was wir politisch tun und worauf wir politisch hinsteuern. Einer, der gelernt hat aus der Katastrophe der Menschlichkeit, was würde der heute sagen zu einem Europa der Risse, des Konfliktes, der Krise: wirtschaftlich, währungspolitisch, sozialpolitisch, asylpolitisch. Diese scheinbare Multimorbidität.

Vielleicht wäre es ein probater Weg, den Plan Europas wieder an seiner Uridee aufzunehmen. An einer sehr alten Geschichte, weil "Aus dem recht verstandenen Alten", so sagte der alte Funder, "das Neue wachsen will". Es ist diese Geschichte von Europa, einer Prinzessin aus einem Teil Kleinasiens, der heute Syrien und Libanon heißt. Diese Prinzessin wird von dem in die Gestalt eines Stiers verkleideten Zeus entführt. Aber die Geschichte beginnt eigentlich erst da, wo die Prinzessin aus dieser Geschichte verschwindet. Denn da macht sich Kadmos, ihr Bruder auf, sie zu suchen. Und sein Weg führt ihn nach Westen. Nach Griechenland, genauer nach Theben. Dort wird ein Fluch auf ihn geladen. Er muss nun zehn Jahre Krieg führen und Länder und Völker verwüsten. Das tut Kreon auch. Doch dann haben die Götter ein Einsehen und sie belohnen ihn, indem sie ihm die Liebe zu Harmonia schenken. Und Theben hat endlich Frieden gewonnen und wird mit seinen Gütern fruchtbaren Handel treiben.

Und haben wir uns Europa nicht auch so gedacht und Österreich mit dazu? Gereift aus den Jahrhunderten der Kriege endlich im Frieden mit sich selbst und der Welt? Wohlstand ausbildend im Handel der Völker? Vermutlich ist die Krise weder eine, die erst mit dem Zug der Syrer Richtung Europa, noch mit der Finanzkrise 2008 begonnen hat. Europa und in ihm Österreich haben etwas vergessen -und das ist nicht anti-modern gemeint. Im Gegenteil: Die Überlieferung dessen, was war und warum man so geworden ist, ist eben kein Mummenschanz, kein Scherz und keine Maskerade. Doch genau dazu haben wir es in den vergangenen Jahren gemacht und damit "den Gedanken und den Willen zu einer großen europäischen Ordnung, in deren Dienst unser Land geworden ist", vergessen. Europa heißt Arbeit, Einsatz, Nachdenken. Die Krieglosigkeit dieses Kontinents ist keine ewig gültige Errungenschaft und auch kein unverbrüchliches Erbe. Ist eine Bringschuld der Völker Europas, keine der europäischen Institutionen. Man erhält den Frieden nicht von oben gespendet. Er kommt nur durch ein stetiges inneres Bemühen.

In Erwartung des Bösen

Österreich hat nun seit mehr als 20 Jahren das Beste aus Europa erwartet, aus seiner Position als Nettozahler, als gut funktionierende Demokratie. Währenddessen hat es sich in diesem Europa leidgetan und sich bösen Kräften ausgesetzt gefühlt. Und die Jugend von 1945, hat sie nicht "die Idee des Ausgleichs durch eine viele Gegensätze überwölbenden Gerechtigkeit eingefordert?" Könnte Funder das falsch verstanden haben? Oder wollte er das nicht sehen, dass Lernprozesse auch revidiert werden können durch Vergessen? War er zu optimistisch? Oder doch ein Realist, der wusste, dass es Europa nie mehr zum Krieg kommen lassen wird, komme, was da wolle.

Dieser Tage wird viel über das äußere Fremde geredet und einige führen im Blick auf die Länder des Balkan wieder das Wort Krieg im Munde und den Terror, der uns bedroht, in Syrien wie auch zu Hause. Die innere Fremde, davon ist kaum die Rede. Jene von uns selbst und jene der Gesellschaft. Und vielleicht ist der äußere Fremde eben nur eine Projektion dieser inneren Entfremdung - nicht im marxistischen, sondern im psychischen und ganz und gar menschlichen Sinn. Was ist also zu tun? Und was hätte Funder heute gesagt? Vermutlich das, was 1950 schon richtig war: "Wir müssen über die Grenze gehen, müssen äußere oder innere Emigranten werden, wenn das Leben hier an sich nicht sinnvoll ist, weil es sinnvoll war, weil es Fundamente enthält, auf denen Zukunft stehen kann. Nicht für uns allein. Für ganz Europa. Für eine Welt der Rechtsordnung, der Freiheit, der Demokratie, der Menschlichkeit."

DIE FURCHE

4. Nov. 1950 Nr. 45

Österreich - eine Tradition?

Von Friedrich Funder

"Die Feen, die unsere Jugend umgaben, waren böse Feen. Ihr Weg führte über die Straßen der Marschierer in die Schützengräben, die Lager. Wir sind keine Unschuldsengel. Wir haben die Schuld kennengelernt. Ob auch ganz eingesehen, das ist eine andere Frage. Aber dazu braucht man die Kraft der Einsicht, die Stärke der Weisheit, etwas Festes und Dauerhaftes, an das man sich halten kann. Dieses Feste wurde uns nicht gegeben. Und so sind wir, aus Erfahrung klüger, Anwälte eines anderen Europa geworden, einer neuen wahrhaften Gemeinschaft aller europäischen und darüber hinaus der Nationen der Welt. Es ist gut, dass das jetzt gesagt wird, gerade jetzt. Österreich ist die Verpflichtung auf eine lebendige Überlieferung. Auf das Weitertragen ewig gültiger Werte. Wir beginnen das Feste zu fassen. Nichts soll uns abhalten, auf diesem Grund zu bauen, das Werk zu beginnen, das hinauswirkt und stündlich an Leuchtkraft gewinnt."

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