Gorman - © Foto: picturedesk.com / Reuters / Kevin Lamarque

Übersetzung von Gormans Gedicht: Offensive der Moral

19451960198020002020

Im Tumult der ideologisch erhitzten Gefühle wimmelt es von moralischen Unternehmern. Über Identität(spolitik) und die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“.

19451960198020002020

Im Tumult der ideologisch erhitzten Gefühle wimmelt es von moralischen Unternehmern. Über Identität(spolitik) und die Übersetzung von Amanda Gormans Gedicht „The Hill We Climb“.

Werbung
Werbung
Werbung

Der Soziologe Howard Becker hat in seinem Buch „Außenseiter“ (Original 1963) den Begriff „moralischer Unternehmer“, moralentrepreneur, geprägt. Damit meinte er Akteure – meist religiöser oder konservativer Prägung –, die dasjenige, was andere Menschen tun, verabscheuen, und deshalb Stoßtrupps der Stimmungsmache organisieren. Sie werben um Repräsentanten des öffentlichen Lebens, um Politiker, Journalisten, Rechtsorgane.

Navigator

Liebe Leserin, lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig? Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Dokumentiert sind jene „moralischen Kreuzzüge“ (symbolic crusades), die in den USA gegen den Konsum von Alkohol und Cannabis geführt wurden. Die Konsumenten solcher Genussmittel wurden als biologisch oder psychisch defekt etikettiert. Damit erzeugte man abweichende – deviante – Gruppen, vor denen die Öffentlichkeit geschützt und deren Verhalten rechtlich verfolgt werden sollte. Beckers Buch gilt heute als Klassiker der Devianz-Soziologie. Prominent wurde seine Sichtwei- se, die besagt, dass abweichen- des Verhalten kein Merkmal der Person (wie etwa eine körperliche Behinderung) sei, sondern Ergebnis einer moralisierenden Zuschreibung, eines „Labels“. Betrachtet man die Vorgänge innerhalb des vielfältigen Phänomens, das heute unter dem Stichwort „Identitätspolitik“ abgehandelt wird, dann stechen bestimmte Ähnlichkeiten ins Auge: Es wimmelt von moralischen Offensiven.

Rechte/linke Identitätspolitik

Man muss allerdings wissen, mit wem man es zu tun hat. Die rechtsextremen Identitären beuten den Heimatbegriff aus, um nationalistische, rassistische, speziell antisemitische und fremdenfeindliche Stimmungen zu befeuern. Damit – auch durch ein mehr oder minder verhülltes Bekenntnis zur Gewalt – stellen sich die Identitären so ziemlich gegen alles, was unsere Demokratien an Grundwerten anerkennen, historisch gespeichert und juristisch verankert haben. Linke Identitätspolitik hingegen arbeitet, soweit argumentativ bemüht, mit Denkfiguren, die auf die Prinzipien einer universalistischen Ethik, auf Grundrechte wie Chancengleichheit einschließlich der Kompensation erlittenen Unrechts zurückgreifen. Dass die schwarze Bevölkerung über Jahrhunderte hinweg in fast völliger Rechtlosigkeit existieren musste – darüber braucht nicht weiter gesprochen zu werden. Es ist ein deprimierendes Kapitel der Vorherrschaft des „weißen Mannes“.

Wie steht es nun aber um folgendes Beispiel? Die Literaturagentin von Amanda Gorman behauptete sinngemäß, dass ein „weißer Mann“ nicht in der Lage sei, die Atmosphäre des Gedichts, welches die junge schwarze Poetin bei der Inauguration des US-Präsidenten vortrug (siehe Bild), angemessen zu übersetzen. Das ist eine reverse discrimination, die Umkehrung einer beschämenden Ungleichbehandlung schwarzer Autorinnen, wie sie in den USA und anderswo Tradition hat. (Im Übrigen zog eine queere Übersetzerin aus den Niederlanden zurück – wegen eines Angriffs auf ihre „falsche“ Hautfarbe.) Das Verhalten der Literatur- agentin mag empören, zumal der betroffene katalanische Übersetzer, Victor Obiols, zu den besten seines Landes zählt. Das zugrundeliegende Argument ist zweifellos revanchistisch, es beharrt auf genau jener Unüberbrückbarkeit der Kulturen, welche die Vorherrschaft der Weißen begründen sollte. Es ist aber auch demonstrativ, und zwar ganz gegen den Geist des Gedichts von Amanda Gorman: So eben – lautet die Botschaft – schaut eine Welt aus, worin der Unterschied zwischen Geburt, Geschlecht, Stand, Klasse oder Bekenntnis, entgegen dem Willen des Gleichheitsgrundsatzes, sehr wohl eine prägende Rolle spielt!

„Asoziale“ Gruppen

Becker analysierte die Grundhaltung und Methoden von moralischen Unternehmern. Sie alle standen unter dem Einfluss religiöser und puritanischer Sondernormen – aus europäisch-protestantischen Milieus in die USA importiert; sie alle wollten die ansonsten gepriesene Freiheit des Einzelnen einschränken. Dabei entlarvte Becker insbesondere die Lehre von den Charakterdefekten als Mythos, an denen a ngeblich jene unheilbar litten, die sich nicht mehrheitskonform verhielten. Diese „asozialen“ Gruppen verdingten sich zum Beispiel als Musiker in verrauchten Nachtclubs, wo Cannabiskonsum normal war (Becker, Jahrgang 1928, war Jazzmusiker, noch bevor er Universitätsprofessor wurde).

The hill we climb, / If only we dare

Der Hügel, den wir erklimmen, / wenn wir’s nur wagen …

Amanda Gorman

Nun sind es jene, die sich identitätspolitisch betätigen, denen von ihren geharnischten Kritikern nachgesagt wird, aufgrund sozio- pathischer Charakterzüge Zwiespalt und Hass in die Gesellschaft zu tragen. Zugleich wird immer deutlicher, dass ein großer Teil der minderbemittelten, armen Bevölkerung in den USA und Europa zum rechtspopulistischen Lager abdriftet. Und ja, in diesem Tumult der ideologisch erhitzten Gefühle treffen moralische Unternehmer auf moralische Unternehmer. Angesichts identitäts- politischer Exzesse, an denen sich an vorderster Front universitäts- geschulte Weiße beteiligen, produziert der sprichwörtlich einfache Mann von der Straße wieder stärker „reaktionäre“ Affekte. Wohlgemerkt, es geht nicht um den überfälligen Zorn der „Black Lives Matter“-Aktivisten und anderer diskriminierter Gruppen, die laut sein müssen, um endlich gehört zu werden. Versucht man, hinter die Fassade des hypermoralischen Aktivismus zu blicken, dann findet sich oftmals ein rechthaberischer Wille zur Dominanz.

Es geht, um mit dem Sozialphilosophen Jürgen Habermas zu sprechen, nicht um den „zwanglosen Zwang“ des besseren Arguments. Dazu bedürfte es einer besonnenen bürgerlichen Mitte, die freilich zusehends abhandenkommt; ihre gebildeten Wortführer sind bereits hinreichend eingeschüchtert. Sie gelten den identitätspolitischen Akteuren als reaktionär, und ein „Shitstorm“ kann verheerende Folgen haben, beruflich wie privat. Alle wahrheitsorientierte Einlassung auf den Andersmeinenden ist an äußere und innere Zwanglosigkeit gekoppelt. Gerade darin jedoch wird eine Falle gewittert. Ist nicht jede Wahrheit eine soziale Konstruktion? Und ist nicht gerade die Forderung nach gewaltfreier Kommunikation ein Relikt jener bürgerlichen Aufklärung, deren Wortführer für Gleichbehandlung und soziale Gerechtigkeit eintraten, soweit dadurch ihre eigene privilegierte Position unangetastet blieb?

Hatte der neomarxistische Guru Herbert Marcuse nicht schon in den Sechzigerjahren der liberalen US-Mittelschicht bescheinigt, einer „repressiven Toleranz“ zu huldigen? Kein Kahlschlag der Tradition Das mag stimmen. Dennoch, die Identität unserer Gesellschaften benötigt einen zivilisierten Diskurs über den unzivilisierten Umgang mit unserem kulturellen Erbe – keinen Kahlschlag der Tradition, keine Säuberungswellen zwecks Herstellung einer makellosen politischen Korrektheit, ob es sich um Denkmäler, Literatur, Dramen oder, wie ebenfalls gefordert, die Bibel handelt. Darf Gott männlich sein, und welche Hautfarbe wird, identitätspolitisch gesprochen, die zulässige sein? Hören wir dagegen die Worte Amanda Gormans: We lay down our arms / so we can reach out our arms / to one another. „Wir legen unsere Waffen nieder, damit wir unsere Arme einander entgegenstrecken können.“ Das mag naiv klingen, doch wem Besseres einfällt, der trete vor …

Der Autor ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Graz.

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung