Und was war der Sinn dieses Lebens?

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Religion • Die Psychotherapeutin Monika Müller über Spiritual Care als Antwort auf die spirituellen Fragen und Nöte sterbender Menschen.

Monika Müller hat das Hospiz- und Palliativwesen in Deutschland wesentlich mitgeprägt. Sie hat sich als Psychotherapeutin, Supervisorin und Dozentin am Lehrstuhl für Palliativmedizin in Bonn nicht nur intensiv mit Trauerarbeit beschäftigt, sondern auch einen Kurs für "Spiritual Care“ entwickelt. Im FURCHE-Interview spricht sie über diese wissenschaftliche Disziplin an der Grenze zwischen Medizin, Theologie und Krankenhausseelsorge, die sich darum bemüht, Spiritualität und Religiosität auch als Bedürfnis kirchenferner bzw. nichtchristlicher Patienten wahrzunehmen und zu erforschen.

FURCHE: Frau Müller, was macht Spiritual Care im Klinik-Alltag anders?

Monika Müller: Mediziner oder Psychologen fragen: Wie fühlen Sie sich denn heute? Spiritual Care fragt: Wes Geistes Kind ist dieser Mensch? Woher speisen sich seine Sehnsüchte, was sind seine Hoffnungen?

FURCHE: Welche Voraussetzungen muss man dafür mitbringen?

Müller: Vor allem die, dass der beratende, helfende, unterstützende Mensch überhaupt eine Membran hat für das, was wir Spiritualität nennen - was nicht zwingend heißt, dass er eine Religions- oder Kirchenzugehörigkeit haben muss. In Spiritual Care-Kursen kann und sollte dann die Auseinandersetzung mit der eigenen Spiritualität stattfinden. Aus meiner über zwanzigjährigen Erfahrung der Arbeit mit Sterbenden und Trauernden versteige ich mich zur Aussage, dass die meisten Menschen eine Sehnsucht nach etwas Übergreifendem haben, nach einem Deutungshintergrund für ihr Leben. Das nenne ich spirituell. Ob das jetzt an eine Gottesvorstellung gebunden ist oder an eine Philosophie oder an so etwas wie "Natur“, ist nicht entscheidend.

FURCHE: Wie verbreitet sind klassisch materialistische Sichtweisen bei Sterbenden?

Müller: Ein kleinerer Teil sagt: Nach dem Tod ist alles aus, ich habe gut gelebt, für meine Familie gesorgt und mir deshalb nichts vorzuwerfen, belästigen Sie mich jetzt nicht mit so einem Kram. Aber viele Menschen fragen sich: Was war denn der Sinn dieses Lebens? Was bleibt von mir? Wird irgend etwas fortbestehen? Da muss man sehr aufpassen - und deswegen gibt es ja Spiritual Care-Kurse - dass man den Menschen nicht einen Deutungshintergrund anbietet, den man ihnen von Amts wegen anbieten muss oder weil man sich selber in ihm so wohlfühlt. Hier habe ich manchmal Sorge bei kirchlichen Trägern oder bei ganz alten Seelsorgern ...

FURCHE: Spiritual Care ist also heilsabstinent, aber sinnorientiert?

Müller: Ja - und ohne Lösung. In unseren Kursen gibt es auch Leute aus der ehemaligen DDR, die wirklich unbeleckt von Glauben sind - und die dann ihre eigene spirituelle Vorstellung entwickeln, sehr frei, sehr offen, aber immer mit der Frage: "Was gibt es über mich hinaus?“

FURCHE: Sterben spirituelle Menschen leichter oder trauern sie kürzer als andere?

Müller: Es gibt Menschen, die einen festen Glauben oder eine Weltanschauung haben, die aber in ihrer Krankheit labil werden oder sogar den Glauben verlieren. Und es gibt Menschen, die nie darüber nachgedacht haben, die plötzlich einen solchen Halt finden. Man kann leider nicht sagen: Wer sich um seine Spiritualität gekümmert hat, dem nützt es für ein leichteres Sterben. Es gibt auch spirituell ausgerichtete Menschen, die verzweifeln, weil es nicht trägt - warum auch immer.

FURCHE: In der Facharzt-Ausbildung für Palliativ-Medizin in Deutschland hat Spiritual Care einen festen Platz. Wie vertragen sich Spiritualität und Naturwissenschaft?

Müller: Gerade Ärzte sind am Anfang skeptisch - aber wenn sie sich dann einlassen und die Weite des Konzepts von Spiritual Care erkennen, dass sie nämlich ihre Ideen und Hoffnungen äußern und festigen dürfen, dann sind sie ziemlich dabei.

FURCHE: Hilft Spiritualität Intensiv-Medizinern bei ethischen Entscheidungen?

Müller: Ich glaube nicht, dass ein spiritueller Hintergrund eine Vorbedingung für ethische Entscheidungen ist. Es gibt ganz nüchterne Ethiker, die ihre Leitlinien haben, etwa die Prinzipien Gerechtigkeit und Fürsorge. Man lässt Patienten ja nicht einfach so sterben: Wenn man ethisch fundiert handelt, dann gibt es vorher einen langen Abwäge-Prozess mit den Fachdisziplinen, der Familie, früheren Aussagen des Patienten. Wenn man dann zum Ergebnis kommt, keine Antibiotika-Behandlung mehr zu machen oder keine Magensonde mehr zu legen, dann kann es dem einzelnen ethisch Handelnden helfen, wenn er das in seinem Weltbild einordnen kann. Aber das ist keine Vorbedingung für eine ethische Handlung.

FURCHE: Worin unterscheiden sich Spiritual Care und psychologische Betreuung?

Müller: Die Sorge um die Psyche ist nicht zwingend Spiritualität. Bei Spiritual Care geht um das Bedürfnis, sein Leben in einen Deutungszusammenhang stellen zu können, der darüber hinausgeht, ob ich meinem Chef eine gute Mitarbeiterin war, die Fabrik gut geleitet oder für meine Familie gut gesorgt habe. Die Fragen "Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich?“ sind etwa klassische spirituelle Fragen. Es geht um Weisheit, Selbstverständnis und freie Entscheidungen. Dogmen und Moral können mit Spiritualität zu tun haben, aber sie müssen nicht.

FURCHE: Kann Spiritual Care das Sterben enttabuisieren?

Müller: Spiritual Care ergänzt Medizin und Pflege und bereichert sie, macht sie auch menschlicher und weicher. Wenn man den Tod eines Menschen als Voll-Endung - mit Bindestrich - in einem bestimmten Sinnzusammenhang sehen kann, dann verliert sich das Tabu, weil dann womöglich weniger Angst da ist. Wenn man den Tod hingegen nur als Ende sieht, dann spricht man lieber nicht darüber. Aber ich merke selbst, wie ich hier taste …

FURCHE: Gibt es eine Geschichte, die Sie besonders bewegt hat?

Müller: Ein Mann lag auf unserer Palliativstation und war nahe am Sterben. Sein Lieblingsbruder war auf dem Weg zu ihm. Und dann erfuhr die Ehefrau, dass der Bruder auf dem Weg tödlich verunglückt war. Sie kam zu mir und sagte: "Das kann ich meinem Mann nicht sagen“. Ich habe ihr geantwortet, dass sie das selbst entscheiden muss. Die Frau hat sich am Ende entschlossen, nichts zu sagen, damit der Mann einen ruhigen Tod hat. Er aber hat später - kurz vor seinem letzten Atemzug - gesagt: "Ich gehe jetzt zu meinem Bruder, der erwartet mich. Warum habt ihr mir nicht gesagt, dass er schon vorausgegangen ist?“ Das habe ich selbst erlebt - und gedacht: Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die können wir nicht wissenschaftlich messen und mit Medizin und Pflege beantworten.

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