
"Unsere Gesellschaft ist dement geworden"
Der deutsche Soziologe Reimer Gronemeyer über seine provokante These, dass Demenz keine Krankheit sei, das weggeworfene Wissen alter Menschen, seine Kritik an forcierter Diagnostik und die Notwendigkeit demenzfreundlicher Kommunen.
Der deutsche Soziologe Reimer Gronemeyer über seine provokante These, dass Demenz keine Krankheit sei, das weggeworfene Wissen alter Menschen, seine Kritik an forcierter Diagnostik und die Notwendigkeit demenzfreundlicher Kommunen.
Derzeit leben in Österreich etwa 130.000 Menschen mit Demenz, bis 2030 könnte sich diese Zahl verdoppeln. Sind all diese mehr oder weniger Hochbetagten krank? Reimer Gronemeyer, Soziologe und Altersforscher an der Universität Gießen, bestreitet diese Sicht. Freitag dieser Woche wird er bei einer Wiener Tagung darüber referieren. DIE FURCHE hat mit ihm vorab gesprochen.
DIE FURCHE: Herr Professor Gronemeyer, Sie behaupten u. a. im Buch "Das 4. Lebensalter", dass Demenz keine Krankheit sei. Angehörige, die miterleben, wie sich Demenzbetroffene verändern, könnten das als Provokation empfinden.
Reimer Gronemeyer: Es ist aber nicht als solche gedacht und soll auch nicht die Schwierigkeiten der Lage von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen entschärfen. Ich möchte vielmehr darauf verweisen, dass es immer schon zum Altwerden gehört hat, dass Menschen nicht nur schlechter sehen und hören, sondern dass auch der Verstand leiden und Verwirrtheit auftreten kann. Dass wir uns nun entschieden haben, das "Krankheit" zu nennen, mag gute Gründe haben -ist aber gleichzeitig auch der Versuch einer jugendbesessenen Gesellschaft, davon abzulenken, dass zum Alter eben auch Einschränkungen gehören.
DIE FURCHE: Aber zwischen "Verwirrtheit" und einem fortgeschrittenen Demenz-Stadium, bei dem Eltern ihre Kinder nicht mehr erkennen, ist doch ein Unterschied?
Gronemeyer: Ja, aber solche Phänomene hat es früher auch schon geben. Dass sie nun sehr viel häufiger geworden sind, hängt damit zusammen, dass uns die moderne Medizin länger leben lässt. Das ist einerseits ein Vorteil, aber als Begleiterscheinung kommt es eben zum Massenphänomen Demenz.
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