Unterstes soziales Netz, nicht Hängematte

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Die Bundesländer schöpfen zur Erreichung des aktuellen Sparziels der Regierung größtenteils beim Wohlfahrtsaufwand ab. Mit Folgen für die Sozialhilfe.

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Die Bundesländer schöpfen zur Erreichung des aktuellen Sparziels der Regierung größtenteils beim Wohlfahrtsaufwand ab. Mit Folgen für die Sozialhilfe.

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Die Sozialhilfe verkörpert das unterste soziale Netz. Sie muss all jene sozialen Risiken kompensieren, die in den ihr vorgelagerten Sozialsystemen, vor allem der Kranken- und Arbeitslosenversicherung, nicht oder nur mehr unzureichend aufgefangen werden (können). Systematisch gliedert sich die Sozialhilfe in die "geschlossene" Sozialhilfe in Heimen und Anstalten und in die "offene" Sozialhilfe an bedürftige Personen in Privathaushalten. Letztere ist ein sozialpolitisch umstrittenes Hilfesystem. Denn die "laufende offene Sozialhilfe" wird nicht nur an den Stammtischen, sondern auch von vielen Politikern als "soziale Hängematte" beschrieben. Dieser Vorwurf trifft (Langzeit-)Arbeitslose ebenso wie Alleinerziehende oder Personen mit sozialen Integrationsproblemen.

Demgegenüber ist es weithin Konsens der Experten, dass die Sozialhilfe eigentlich nur als Instrument zur individualisierten Überbrückung außergewöhnlicher Notlagen taugt. Von daher ist sie gar nicht geeignet, regelmäßig wiederkehrende und massenhaft auftretende soziale Risikolagen - etwa der Arbeitslosigkeit - aufzufangen. Weder verfügen die Länder und Gemeinden über entsprechende personelle und materielle Ressourcen noch über die formellen Kompetenzen, armutsvermeidende Maßnahmenbündel zu entwickeln. Es erstaunt deshalb nicht, dass sie eng gezogene budgetäre Vorgaben in ausgrenzende und abschreckende Verwaltungspraktiken übersetzen.

Das Ergebnis tritt in der Sozialhilfestatistik zu Tage. Der große Trend ist deutlich: zwischen 1990 und 1997 sank die Gesamtzahl der Sozialhilfeempfänger von 60.662 auf 32.336 um 47 Prozent, um 1998 erneut auf 56.490 zuzunehmen. Zugleich wurden 1998 aber in Österreich 440.000 Einkommensarme statistisch erfasst. Fragt man nach den Ursachen, warum so viele Menschen, die augenfällig Anspruch auf Sozialhilfe hätten, keinen Antrag bei den Sozialämtern stellen, stößt man auf ein vielschichtiges Bild der Nichtinanspruchnahme. Einerseits müssen wir verschiedene Formen der Nichtinanspruchnahme auseinanderhalten. In der empirischen Forschung werden die absolute Dunkelziffer (die Zahl der berechtigten aber Sozialhilfe nicht in Anspruch nehmenden Personen), die temporäre Dunkelziffer (das Ausmaß der zeitlich verzögerten Inanspruchnahme), die partielle Dunkelziffer (die Nichtinanspruchnahme von Teilen der insgesamt zustehenden Leistung) und die differentielle Dunkelziffer (der ziffern- oder betragsmäßige Umfang der nicht in Anspruch genommenen Leistung im Verhältnis zum tatsächlichen Gesamtaufwand) unterschieden.

Angst vor Behörden Andererseits müssen drei Ursachenbündel auseinandergehalten werden: Die durch das Recht, das Verhalten der betroffenen Person und die Organisation der Sozialhilfeverwaltung bedingten Formen der Nichtinanspruchnahme. Auf der Ebene des Rechts sind vor allem der Regressanspruch (Rückzahlung der empfangenen Hilfe), die Nachrangigkeit von Sozialhilfeleistungen, die unzureichende Deckung des Lebensbedarfes durch die Richtsätze und die ungeeigneten Verfahrensbestimmungen des Allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts zu erwähnen. Auf der Ebene des Verhaltens der Betroffenen spielen die Unkenntnis von Anspruchsvoraussetzungen, die Angst vor Stigmatisierung und die negativen Erfahrungen im Umgang mit Behörden eine Rolle. Auf der Ebene der Organisation sind die passiv-abweisende Grundhaltung der Verwaltung, die unzureichende Professionalität des Verwaltungshandelns, die bürokratische Aufbau- und Ablauforganisation sowie die mangelhafte Beratung und Information der Klientel zu erwähnen.

Seit annähernd einem Jahrzehnt wird angesichts dieser Entwicklungen in Österreich über ein Bundesgrundsatzgesetz zur Sozialhilfe mit einheitlichen Richtsätzen, Verfahrensbestimmungen und einheitlichem Zugang zum Recht debattiert. Die bisherigen Vorstöße scheiterten allerdings an den Einwendungen der Bundesländer, die ihre Ablehnung mit der mangelnden Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen, mit den zu erwartenden Kostensteigerungen und mit den Problemen der Rechtsvereinheitlichung begründeten.

Was spricht denn nun konkret für ein Bundesgrundsatzgesetz zur Sozialhilfe? Hier sind vor allem drei Argumente ins Treffen zu führen. Zum einen ist es ein demokratiepolitisches Gebot, von Armut betroffene oder bedrohte Personen unabhängig von ihrem Wohnort gleich zu behandeln. Zum zweiten fängt die Sozialhilfe die sozialen Probleme der ihr vorgelagerten Systeme wie der Arbeitslosenversicherung entweder überhaupt nicht mehr oder nur unter Inkaufnahme enormer Ausgrenzungsrisiken auf. Es wäre deshalb zweckmäßiger, die Schnittstelle zwischen Sozial- bzw Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe auf Bundesebene zu definieren. Zum dritten nimmt das Änderungstempo im Strukturwandel sozialer Ungleichheit zu: die Gesichter der Armut werden heterogener; zugleich fehlen in den Bundesländern Kapazitäten zur Sozialplanung. Deshalb ist der Bund berufen, hier ordnend einzugreifen und sowohl das Recht als auch die Vollziehung der Sozialhilfe fortlaufend dem Sozialprofil der Armut anzupassen.

Massive Eingriffe nötig Allgemein gesprochen läge der im alltäglichen Geschäft der Armutsbekämpfung spürbare Terraingewinn eines Bundesgrundsatzgesetzes in folgenden Punkten: * Vereinheitlichung der Richtsätze * einer transparenten Regelung zum Einsatz der eigenen Arbeitskraft insbesondere hinsichtlich der Zumutbarkeit der Arbeit sowie der Bemühungs- und Mitwirkungspflicht der Antragsteller * der Schaffung eines vor dem Zugriff der Sozialhilfe-Behörde geschützten "Schonvermögens" * der Festlegung angemessener Wohnkosten * der pauschalen Krankenversicherung der knapp 100.000 in Österreich nicht krankenversicherten Personen * der Vereinheitlichung von Diät-, Strompauschalen sowie der Sonderzahlungen (13./14.)

* der Beseitigung des Regresses durch Begünstigte von Hilfeleistungen; dies mit dem Argument, dass Sozialhilfeempfänger so gut wie nie nach Beendigung des Sozialhilfebezugs zu hinreichendem Vermögen gelangen.

In verfahrensrechtlicher Hinsicht bestünde der Nutzen einer Bundesgrundsatzgesetzgebung zur Sozialhilfe * in der Erleichterung (Entformalisierung) der Einbringung von Anträgen * der Verkürzung der Entscheidungsfristen der Behörde von sechs auf drei Monaten * der Festschreibung der "Mitwirkungspflichten" des Antragstellers im Verfahren * der Verpflichtung der Behörde zur Erlassung schriftlicher Bescheide und dem Verbot mündlicher Bescheide * der Erstreckung der Berufungsfrist auf sechs Wochen * der Eröffnung des Rechtszugs von der jeweiligen Oberbehörde (derzeit Amt der Landesregierung) hin zu Unabhängigen Verwaltungssenaten.

Auf organisatorisch-institutioneller Ebene sollte eine Gesamtreform der Sozialhilfe * die Zuständigkeit von den Bezirksverwaltungsbehörden abziehen und einem "Bundessozialamt" mit geänderten Kompetenzen übertragen * Grundsätze des "one-desk-management" festschreiben, sodass sämtliche Sozialleistungen auf einem Schreibtisch "zusammenlaufen" können * eine Anonymisierung der Sozialhilfe ermöglichen (derzeit läuft der Vollzug der Sozialhilfe - außerhalb der Statutarstädte, in denen magistratische Sozialämter eingerichtet sind - vorwiegend zwischen Gemeinden und Bezirksverwaltungsbehörden ab. Die dabei entstehende repressive Nähe und soziale Kontrolle trägt wesentlich zum Stigma der Sozialhilfe bei) * Sozialanwaltschaften einrichten, die vergleichbar den Patienten- oder Landeskinder- und Jugendanwaltschaften die Interessen der Klienten des Sozialhilfesystems vertreten können Bereits eine kurze Betrachtung zeigt, dass eine Reform der Sozialhilfe nicht ohne massive Eingriffe in die bestehende Architektur der sozialen Sicherung möglich ist. Zugleich wird deutlich, dass eine Reform der Sozialhilfe nicht ohne den Umbau der ihr vorgelagerten sozialen Systeme, insbesondere der Arbeitslosenversicherung, erfolgen kann.

Wenn man allerdings die gegenwärtige Entwicklung einer massiven Ausweitung von Armutsrisiken in der Arbeitslosenversicherung in Rechnung stellt, rückt diese Reform in weite Ferne. Zumal die Bundesländer die von ihnen zugesicherten Milliarden zur Erreichung des aktuellen Sparziels der Bundesregierung größtenteils beim Wohlfahrtsaufwand abschöpfen wollen.

Der Autor ist Professor am Institut für Rechtssoziologie der Universität Salzburg.

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