Verdrängte Geschlechtlichkeit

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Die sexuellen Bedürfnisse von Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen werden in Österreich nach wie vor tabuisiert.

Ihre dezent geschminkten Augen blicken selbstbewusst in die Kamera, die lackierten Fingernägel umspielen das Knie, das Dekolleté ist ins rechte Bild gerückt. Keine Frage: Andrea Mielke ist eine attraktive Frau. Dass sie ihre Weiblichkeit derart in Szene setzt, war für die diplomierte Sozialarbeiterin trotzdem keine Selbstverständlichkeit: Andrea Mielke leidet unter spinaler Muskelatrophie und sitzt im Elektro-Rollstuhl. 24 Stunden täglich benötigt sie persönliche Assistenz, eine Hilfestellung, die ihr weitestgehende Selbstbestimmung ermöglicht - und die sie sich hartnäckig erstritten hat.

Ebenso härtnäckig versucht Mielke, das Rollenverständnis behinderter Menschen als Frau bzw. als Mann zu stärken. Erst im Vorjahr hat sie eine Fotoausstellung mit dem Titel "Ein Hauch von Gefühl. Weiblich, behindert, sinnlich" initiiert - nun ist der dazugehörige Katalog erschienen. Gemeinsam mit sechs anderen, behinderten Models zeigt Mielke auf den Fotos eine Seite von sich, die in ihrer Umwelt allzu oft verdrängt wird: ihre Geschlechtlichkeit. "Behinderte Menschen werden oft von Kindheit an geschlechtsneutral erzogen", sagt Mielke. Dieser Verdrängungsprozess alles Sexuellen hat freilich im Erwachsenenalter weit reichende Folgen: Zum einen wird es etwa körperlich Behinderten noch schwerer gemacht, sich angesichts von "genormter Schönheit" in den Medien als Mann bzw. Frau begehrenswert zu fühlen; zum anderen werden vorhandene sexuelle Bedürfnisse von Menschen mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung oft weggeredet und verdrängt. "Sexualität und Behinderung ist nach wie vor ein Tabu", klagt Mielke.

So heikel das Thema ist: In Behindertenbetreuungs-Einrichtungen sind Diskussionen darüber an der Tagesordnung: "Ich bin noch überall damit konfrontiert worden", erzählt die Sozialarbeiterin Ariane Hochleitner. Ob vor 20 Jahren, als sie im Schwerstbehindertenbereich begonnen hat, oder später im Umgang mit Menschen mit leichter mentaler Behinderung: Nicht selten sind Klienten mit der Klage an sie herangetreten, dass ihre Sehnsucht nach zärtlicher Berührung oder nach Ausleben ihrer sexuellen Energien unbefriedigt bleibt. "In so einem Fall kann ich nur viel erklären, aber nichts tun", so Hochleitner.

Manche der Betroffenen würden derzeit die Dienste von Prostituierten in Anspruch nehmen. Laut dem Wiener Rechtsanwalt Helmut Graupner ist die Vermittlung von Prostituierten an Menschen mit Behinderungen seit der Sexualrechtsnovelle vom 1. Mai legal. "Der Betroffene muss allerdings erkennen können, was Sexualität ist und was mit ihm geschieht." Die Praxis ist freilich diffiziler, weiß Ariane Hochleitner: "Man muss sich immer fragen: Steht die Einrichtung hinter mir?"

Anders als in Holland und Deutschland, wo es für Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung - teils sogar von den Gemeinden oder Krankenkassen finanzierte - Angebote von Sexualassistenz mit stark begrenztem Körpereinsatz gibt (etwa von den "Sexhelpers" oder dem Verein "Sensis"), wird in Österreich nichts Vergleichbares angeboten. "Sexualassistenz kann natürlich eine Beziehung nicht ersetzen", gibt Hochleitner zu bedenken. Auch Beratung im Bereich der Sexualpädagogik bleibe unverzichtbar. "Aber die sexuellen Bedürfnisse sind trotzdem da", weiß die Sozialarbeiterin, die 2002 den "Vereinsunabhängigen Arbeitskreis zur sexualpädagogischen Begleitung von Menschen mit mentalen Beeinträchtigungen" gegründet hat.

Akuter Diskussionsbedarf

Zumindest diskutieren wird man demnächst über das schwierige Thema "Sexualität und Behinderung": Am 25. November lädt die Caritas der Erzdiözese Wien zu einer internationalen Tagung ein, bei der auch die in Deutschland tätige Sexualbegleiterin Nina de Vries (s. Artikel rechts) von ihren Erfahrungen berichten wird. Dass Diskussionsbedarf besteht, zeigt sich schon am Teilnehmerinteresse: "Wir sind völlig überlaufen", sagt Otto Lambauer von der Bereichsleitung für Behinderteneinrichtungen der Wiener Caritas.

Patentrezepte zur Lösung dieses Problems sind jedenfalls Mangelware - auch aus ethischer Perspektive: "Der Bereich Sexualität und Behinderung ist theologisch-ethisch bisher ein weitgehend unbeackertes Gebiet", gesteht der Wiener Moraltheologie Gerhard Marschütz, der ebenfalls bei der Caritas-Tagung referieren wird. Angebote von Sexualassistenz seien aber heikel, meint er: "Das liegt in der Nähe der Prostitution." Andererseits stellte auch Papst Johannes Paul II. anlässlich des Europäischen Jahrs der Menschen mit Behinderungen 2003 fest: Behinderte "brauchen Zärtlichkeit, Nähe und Intimität". Doch wie weit kann dieses Bedürfnis befriedigt werde, ohne dass die Würde der Beteiligten verletzt wird?

Die Therapeutin Rotraud Perner hat sich intensiv mit dieser Frage beschäftigt. Konfrontiert wurde sie mit dieser Problematik am Weißen Hof, einem Rehabilitationszentrum der Allgemeinen Unfallversicherungsanstalt in Klosterneuburg, wo unter anderem Personen mit Schädelhirntrauma und Querschnittlähmung behandelt werden. Das Konzept der holländischen "Sexhelpers" sei - zumindest bei körperbeeinträchtigten Personen - sehr hilfreich, so Perner: "Hier erfahren sie: Was kann ich mit meinem Körper tun?" Für den Umgang mit geistig beeinträchtigten Menschen sei freilich ein noch sensiblerer Zugang notwendig - schließlich könnten solche Personen unerwartet reagieren. Zudem müsste hier die Gefahr des Missbrauchs gesondert thematisiert werden.

Gefahr des Missbrauchs

Tatsache ist, dass vor allem Frauen mit Behinderungen erschreckend häufig Opfer von sexuellem Missbrauch werden: Geht man davon aus, dass jede fünfte Frau Opfer von sexueller Gewalt wird, so liegen die Schätzungen bei Frauen mit Behinderungen bei 60 bis 90 Prozent. "Viele dieser Frauen werden erst über Missbrauch sexuell aufgeklärt", berichtet Klaudia Gruber von "Ninlil", dem "Verein wider die sexuelle Gewalt gegen Frauen, die als geistig oder mehrfach behindert klassifiziert werden".

Auch Ariane Hochleitner kennt diese prekären Zusammenhänge: "Viele Frauen mit geistiger Behinderung nehmen missbräuchliche Beziehungen in Kauf, um überhaupt eine Beziehung zu haben." Um den Betroffenen - in gesichertem Rahmen - dennoch Hilfen anbieten zu können, fordert sie deshalb in Österreich die Einrichtung von Sexualassistenz.

Reinhard Leitner hat indes selbst die Initiative ergriffen: Nach dem Vorbild des deutschen Vereins "Sensis" versucht Leitner, der seit seiner Geburt querschnittgelähmt ist, mit Hilfe der Homepage www.wiend.at ein Körperkontaktservice aufzubauen. "Aber Personen zu finden, die auch einen psychologischen Hintergrund haben, ist schwierig", gesteht er.

Einen anderen Weg beschreitet Andreas Guth: Der Vorarlberger - selbst Spastiker - möchte in Dornbirn eine Selbsterfahrungsgruppe zum Thema Partnerschaft und Sexualität von Frauen und Männern mit Körperbehinderung initiieren. "Das größte Problem ist ja, dass sich alle in Schweigen hüllen."

Informationen zur Tagung "BEHINDERT - SEXUALITÄT?" der Wiener Caritas am 25. November unter (01) 87812/332.

Bestellung des Katalogs "Ein Hauch von Gefühl. Weiblich, behindert, sinnlich" unter andrea.mielke@surfeu.at.

Infos zur Selbsterfahrungsgruppe von Andreas Guth unter www.reiz.at

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