"Verhaiderung" der Pädagogik

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Nicht "neue Strenge", sondern Herzenswärme, Zeit und klare Regeln brauchen Kinder heute, sagen die Kritiker eines repressiveren Erziehungsstils.

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Nicht "neue Strenge", sondern Herzenswärme, Zeit und klare Regeln brauchen Kinder heute, sagen die Kritiker eines repressiveren Erziehungsstils.

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Ein (neues?) pädagogisches Gespenst geht um in Europa: eine "pädagogische Trendwende", die einerseits zu "neuer Strenge" und zu mehr erzieherischem "Mut" aufruft, andererseits den ,antiautoritären' beziehungsweise reformpädagogischen Bewegungen alle möglichen Probleme mit Kindern und Jugendlichen heute anlasten will. Besonders die "68er" gelten als Sündenbock-Chiffre für mangelnde Grenzziehung, Ver-weichlichung, ja sogar für die Gewaltphänomene in jugendlichen Subkulturen.

Mit derart aus der Luft gegriffenen populistischen Thesen, wie sie zum Beispiel der Tiroler Pädagoge Heinz Zangerle seit einiger Zeit in österreichischen Medien vertritt, kann man sich jedenfalls des Applauses ratlos-verunsicherter Eltern und konservativer Kreise sicher sein. Dabei wird weniger fachlich, als mit mehr oder weniger dubiosen Aussagen von Politikern, Arbeitgeberpräsidenten, Journalisten und so weiter "argumen-tiert", deren pädagogische Praxis und Kompetenz ja nun wirklich als eher bescheiden einzustufen ist. Obwohl die markigsten Aussagen dann meist wieder abgeschwächt werden, erscheint dies manchen als eine Art "Verhaiderung der Pädagogik", eine Tendenz also, mittels simpler Vorurteile und unter Namhaftmachung leicht greifbarer Schuldiger Thesen zu proklamieren, derer sich dann restaurative Kräfte beliebig und unter Berufung auf "Fachleute" bedienen können.

Druck der Wirtschaft Daß es eine breite pädagogische Verunsicherung gibt, ist gar keine Frage. Deren Ursachen jedoch sind nicht durch flotte Zitate aus Wochenmagazinen zu erklären. Und wer allen Ernstes die antiautoritäre Erziehung für diese Unsicherheit verantwortlich macht, geht ja von der Annahme aus, daß diese sich auf breiter Ebene je-mals durchgesetzt hätte. Mitnichten! Vielmehr hat sich das "neoliberale" kapitalistische System zunehmend auch der kindlichen Lebenswelt bemächtigt und diese einem unglaublichen Wandel ausgesetzt: nie zuvor hatten "Kids" einen so frühen, selbständigen, umfangreichen Zugriff auf ihre Umwelt (Freizeit, Konsum, neue Technologien und so weiter). Nie zuvor hat die Wirtschaft Kinder als Adressaten ihrer Absatzinter-essen so "ernstgenommen". Sie geraten heute "ungefederter" denn je unter den Einfluß der Gesellschaft und der Marktwirtschaft und wollen sich diese Zugänge auch nicht mehr nehmen lassen, wie der Erziehungswissenschaftler Professor Bernhard Rathmayr treffend analysiert (siehe Buchtips). Ein Pyrrhus-Sieg der "grenzenlosen" Konsumideologie? Wie kritisch man auch immer darüber denken mag, erscheint es doch unmöglich, Kinder aus dieser gesellschaftlichen Entwicklung mittels althergebrachter erzieherischer Repression wieder abzukoppeln! Also müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen. Aber was?

Kindern und Jugendlichen fehlt heute vor allem - und hier liegt eines der Hauptprobleme - eine adäquate Auseinandersetzung und Begleitung in diesen Wandelprozessen und im Dschungel der gesellschaftlichen Warenwelt. Damit aber fehlen auch wirklich förderliche Bedingungen für diese nie dagewesene Art kindlicher "Selbstsozialisation": Der moralisierende Zeigefinger der Trendwende-Apostel dagegen ist alles andere als eine hilfreiche Geste in dieser schwierig gewordenen Welt. Ohne Verständnis und nur mit unheilschwangeren Warnungen wird es keinen wirklichen Zugang zu diesen "new kids" geben. Ein weiteres Problem ist die Zeit: nicht nur die streßgeplagten Eltern, auch die Kinder selbst haben bei Erfüllung aller Lern- und Freizeit-"Pflichten" zu wenig Zeit, Ruhe und Muße in ihrer Familie! Alleingelassen inmitten der glitzernden Warenwelt vereinsamen sie heute auch leichter als früher: in Wien etwa fürchten sich laut einer Studie des Unterrichtsministeriums Tausende Kinder wegen des langen Alleinseins vor den Sommerferien! Durch die "Verinselung" von kindlichen Lebensräumen abseits der alltäglichen Wohnumwelt fehlt es an erreichbaren geeigneten Orten, an denen Kinder ihre Fertigkeiten gemeinsam mit anderen einsetzen und erproben können! Auch die Schulen zum Beispiel stellen wenig Erprobungsraum zur Verfügung: durch deren unflexible Organisation kann vieles, was Kinder interessiert und sie auch fordert, höchstens in den Projektwochen am Schulschluß stattfinden. So entstehen viele Situationen, in denen Kinder es nicht lernen, mit ihren Freiheiten und selbsterworbenen Fähigkeiten produktiv - zum Bei-spiel gemeinschaftsbildend (das heißt auch Grenzen respektierend!) - umzugehen. Und dies trägt wiederum - neben den düsteren Zukunftsaussichten vieler Jugendlicher - zu den Problemen der Gewalt und der mangelnden sozialen Verantwortung bei.

Haltlos & überfordert Dieser rasende soziale Wandel von Kindheitsmustern braucht umso mehr ausreichend fördernde und haltgebende Bedingungen, als die gegenwärtigen gesellschaftlichen Umbruchsituationen auch die Erwachsenen selbst haltlos machen und über-fordern. Daraus resultieren wiederum die verbreitete Gleichgültigkeit und Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen, die Erziehungsberatern aus ihrer Praxis eigentlich bekannt sein müßten. Die zunehmende Entwertung und Verunsi-cherung breiter Teile der (Eltern-) Bevölkerung durch wirtschaftliche Rationalisierungsschübe, die Individualisierungsprozesse, die unsere traditionellen, haltgebenden Bindungen pulverisieren, das mangelhafte System öffentlicher Kinderbetreuung bei steigender Doppelberufstätigkeit und anderes mehr: das sind Gründe für die beunruhigenden Symptome und Probleme von Heranwachsenden und ihren Eltern.

Die Konstrukteure der Trendwende aber ignorieren diese gesellschaftlichen Ursachen für die beklagten Probleme: statt dessen fahnden sie nach "Schuldigen" (karrieregeile Mütter, abwesende Väter, linke 68er, Alleinerzieherinnen, Feministinnen ...) und fordern mit großer medialer Präsenz alte, restriktive Antworten auf diese völlig neuen Problemstellungen und Widersprüche. Doch selbst ihr althergebrachtes Lamentieren über den Mangel an entschlossener Strenge als Grund allen Übels geht vielfach ins Leere: autoritäre Gewalt oder strukturelle Einengung sind längst nicht überall "Schnee von gestern". Die "Kuschelpädagogik" in der Schule verhindert meist schon einen überfordernden Lehrplan. Und auch psychische Gewalt ist in Familie wie Schule weit verbreitet. Keine Rede also von "Demokratiezwang" oder gar "Sanftmut"!

Wer ist schuld?

Dies gilt besonders beim Phänomen jugendlicher Gewalttätigkeit, das ja auch gern den "68ern" in die Schuhe geschoben wird! Die Lebensgeschichten gewalttätiger Jugendlicher zeigen aber in fast allen Fällen entweder einen "uralt-autoritären" und/ oder einen "neuzeitlich-vernachlässigenden" Erziehungsstil: oft familiäres Chaos, Prügel, Alkoholismus der Eltern, mangelnde Zuwendung, Mißachtung, Kälte; oder aber: materiell ausreichende Versorgtheit, manchmal sogar Verwöhnung, aber keine Zeit der Eltern für ihre Kinder, Gleichgültigkeit, Alleinsein, zu frühes Entlassen hinaus ins "feindliche Leben". Ein Bild von "seelischer Verwahrlosung" also, von "Liebeshungersnot", von der der große österreichische Individualpsychologe Erwin Ringel gesprochen hat. Gewalt dient dann oft quasi als Kompensation fehlender Selbstbestätigung und als "Ausloten", wie weit man in dieser unverbindlichen Welt eigentlich gehen kann (Dieckmann 1994).

Den Befürwortern der "neuen Strenge" fehlt also ganz entscheidend ein sozialwissenschaftlicher Blick auf die wirklichen Lebensverhältnisse Heranwachsender. Ganz andere und tiefere Ursachen - schwieriger und weniger publikumswirksam - werden bei genauer Analyse sichtbar. Statt zu moralisieren und nach schärferem Jugendschutz zu schreien, gälte es, für uns Erwachsene selbst(!) neue Fähigkeiten und v. a. mehr Zeit für eine förderliche Auseinandersetzung mit Kindern und Jugendlichen einzufordern. Daß dabei auch die Politik wesentlich mehr investieren muß (Teilzeitarbeit, Betreuungseinrichtungen, neue Schulmodelle, mehr soziales Lernen, jugendfreundliche Infrastrukturen in Gemeinden und so weiter), versteht sich fast von selbst.

"Vom Befehlen und Gehorchen zum Verhandeln" - so wurde ein moderner Erziehungsstil einmal umrissen: "Verhandeln" heißt aber niemals "grenzenloses Gewährenlassen" - nein: gutes Verhandeln setzt erstens gute Verhandlungspartner und zwei-tens klare Regeln und Abmachungen voraus, die beiderseits(!) eingehalten werden müssen. "Herzenswärme, Freiräume und klare Regeln" sind dabei immer noch als das "magische Dreieck" jeder kindgerechten Erziehung zu erachten, wie Klaus Hurrelmann und Gerlinde Unverzagt in ihrem ganz neuen Buch "Kinder stark machen für das Leben" schreiben. Diese Freiräume sollten nicht einfach gleichgültig überlassen, sondern bewußt förderlich gestaltet werden, damit Kinder und Jugendliche sich im Kontakt mit uns als ihren "Verhandlungspartnern" darin finden können - eine Art neuer Generationenvertrag vielleicht!?

"Befehlen und Gehorchen" jedenfalls haben schon genug Schaden angerichtet - und vor allem: "grenzenloses" Unglück.

Literaturtips Kinder greifen zur Gewalt.

Dorothea DIECKMANN.

Rotbuch Verlag, Berlin 1994.

Kinder stark machen für das Leben.

Klaus HURRELMANN und Gerlinde UNVERZAGT. Herder 1998.

Ein Jahrhundert des Kindes ?

Bernhard RATHMAYR. Zur Lebensrealität von Kindern in der Konsum-gesellschaft. In: Erzieung heute. Heft 1/1998, 5 - 17.

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