"Verteilungsdebatte ist ausgeschaltet"

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Warum maßgebliche Mitverursacher der Krise bis heute nicht zur Verantwortung gezogen wurden, die Politik nach rechts rückte und sich das Fenster für eine Reform des Systems geschlossen hat. Ein Interview.

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Warum maßgebliche Mitverursacher der Krise bis heute nicht zur Verantwortung gezogen wurden, die Politik nach rechts rückte und sich das Fenster für eine Reform des Systems geschlossen hat. Ein Interview.

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Gabriele Michalitsch ist Ökonomin und Politikwissenschafterin. Sie spricht über Konsequenzen der Krise, die weit über das Ökonomische hinausgehen. Die Krise habe nicht zu System-Verbesserungen geführt, im Gegenteil.

Die Furche: Vor zehn Jahren begann die Finanzkrise. Krise sei Chance hieß es damals. Hatten auch Sie diese Hoffnung?

Gabriele Michalitsch: Ja. Anfangs sah ich Chancen auf progressive politische und gesellschaftliche Veränderungen. Infragestellung der Wachstumsideologie zum Beispiel, ökologische und soziale Neuorientierung. Aber bereits im August 2009 verkündeten die Schlagzeilen: "Das Ende der Krise". Damit wurde die kapitalismuskritische Debatte abgeblockt. Ein massiver Backlash setzte ein. Die vom Finanzmarkt ausgelöste Krise wurde zu einer Staatskrise umdefiniert.

Die Furche: Sind für Sie die Verantwortlichen für die Krise zur Verantwortung gezogen worden?

Michalitsch: Nein. Die 2008/09 angekündigte Erneuerung der globalen Finanzarchitektur ist ausgeblieben. Es gab wohl Neuregelungen, etwa Basel III zur Stabilisierung der Banken, aber die grundlegenden Spielregeln des Finanzsektors wurden nicht angetastet. Die Spekulation wurde nicht eingeschränkt. Wir haben heute die gleiche Entwicklung, die 2008 in die Krise geführt hat -nur radikalisiert. Die Furche: Inwiefern?

Michalitsch: Die neoliberale Politik, die in die Krise geführt hat, wurde verschärft. Damit nehmen Vermögenskonzentration, Unternehmensgewinne und Privatisierung von sozialer Sicherung weiter zu. Das führt zu großen Zuflüssen in den Finanzsektor und pusht natürlich "die Märkte". Davon profitiert eine sehr dünne Schicht, vor allem Kapitaleigner und Besitzer großer Vermögen. Die Furche: Und der Rest der Bürger?

Michalitsch: Die große Mehrheit verliert, besonders die sozial Schwächeren. Sozialstaatliche Leistungen werden immer mehr reduziert, Prekarisierung nimmt zu. Die Reallöhne sind in den letzten zwanzig Jahren überwiegend gesunken und stark auseinandergedriftet. Die unteren 80 Prozent der Unselbstständigen haben Einkommen verloren, die obersten 20 Prozent dazugewonnen. Soziale Polarisierung verschärft sich.

Die Furche: Alfred Marshall hat das Wachstum mit einer Welle verglichen. Auf der Wellenspitze befänden sich die Reichen, die durch das Wachstum weit höher gehoben würden als der Rest, doch auch der Rest werde gehoben und das sei ausreichend, um die Armut zu bekämpfen. Und tatsächlich werden die Menschen global gesehen reicher.

Michalitsch: Und immer ungleicher - im globalen ebenso wie im nationalen Rahmen. Armut ist immer gesellschaftsbezogen. Selbst wenn Arme hier im Verhältnis zu Armen in Indonesien reich sind, bleiben sie hier sozial marginalisiert und können sich beispielsweise kaum eine Wohnung leisten. Symptomatisch finde ich, dass man in Wien die Mindestgröße von Wohnungen herabgesetzt hat und Ikea eine Produktlinie für Wohnen auf minimalem Raum entwickelt hat. Wohnverhältnisse, die an das 19. Jahrhundert erinnern, werden als schick verkauft.

Die Furche: Apropos Geschichte. Es gibt Historiker, die Parallelen ziehen zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, bzw. zu 1938.

Michalitsch: Die Parallelen scheinen mir offensichtlich. In Chemnitz werden Menschen aufgrund ihres vermeintlichen "Andersseins" gejagt. Die ungarische Regierung lässt Asylwerber in Lagern systematisch hungern. Rechtsextreme sitzen in Parlamenten und Regierungen, der gesamte öffentliche Diskurs hat sich sehr weit nach rechts verschoben. Begriffe, die noch vor kurzem als völlig inakzeptabel galten, verallgemeinern sich. Die Furche: Auch in Österreich?

Michalitsch: Ja, sicher. Kritik am 12-Stunden-Tag wurde beispielsweise von Spitzenpolitikern mit dem NS-Terminus "Gräuelpropaganda" bezeichnet.

Die Furche: Dieser Trend, den Sie in der Sprache beschreiben, wo hat der seinen ökonomischen Sinn?

Michalitsch: Der ökonomische Sinn besteht darin, die politische Diskussion über die Verteilungsfrage auszuschalten und die Menschen von den eigentlichen politischen Problemen abzulenken. Es ist eine Form der Herrschaftssicherung einer kleinen Gruppe, vor allem von Kapitaleignern. Und das ist eine kleine Gruppe von weißen Männern. Die Furche: Würde Sebastian Kurz hier sitzen, er würde vermutlich sofort sagen, das ist eine Verschwörungstheorie.

Michalitsch: Das hat nichts mit Verschwörung zu tun. Sehen Sie sich an, wer Entscheidungspositionen besetzt, wer über den Großteil an Kapital, Vermögen und Einkommen verfügt. Gerade in den letzten Monaten wurden zentrale Positionen in der Verwaltung und etlichen anderen öffentlichen Institutionen mit Mitgliedern von rechten Burschenschaften besetzt, also von Männerbünden. Ein polnischer EU-Abgeordneter hat das so ausgedrückt: "Frauen sind kleiner, schwächer und weniger intelligent, also müssen sie weniger verdienen." Das ist die rechte Logik, die verbreitet wird.

Die Furche: Wenn das so offensichtlich ist, warum ist die Gegenwehr so schwach?

Michalitsch: Jeder und jede ist nur mehr für sich selbst verantwortlich. Der Druck im Alltag ist groß, es bleibt kaum Zeit für politisches Engagement. Alles richtet sich an Marktverwertbarkeit aus. Bildung vermittelt kaum gesellschaftliche Zusammenhänge. Die Menschen werden abgelenkt und zerstreut.

Die Furche: Apropos Zerstreuung, auch bei der Unterhaltung gibt es Aufschlussreiches von wegen Zeitgeist. Beispiel "Raumschiff Enterprise" aus den 70er-Jahren: Da leben alle Menschen brüderlich im Weltstaat "Föderation". Moderne Serien handeln dagegen von Kleinststaaten und ihrer Verteidigung, etwa "Game of Thrones" oder "Wikinger". Und statt Phaser gibt es literweise Blut.

Michalitsch: Ja, die Kulturindustrie spielt eine wichtige Rolle. In alten Krimis, "Derrick" oder "Der Alte" aus den 1970er-oder 1980er-Jahren zum Beispiel, werden oft gesellschaftliche Zusammenhänge thematisiert. Komplexe psychische und soziale Konstellationen, die zu einem Verbrechen führen, werden dargestellt. Manchmal geht es auch explizit um die Durchsetzung von Gleichheit, dass etwa der Generaldirektor genau so behandelt wird wie jeder andere. Heute stehen Action und Technik im Vordergrund.

Die Furche: Und all das hat übergeordnete Bedeutung?

Michalitsch: Kultur, Ökonomie und Politik sind ja nicht trennbar. Gesellschaftliche Zusammenhänge werden kaum gelehrt. Stattdessen gibt es Technikunterricht. Das ist ein großes Problem. Viele Dimensionen des Menschseins bleiben unentwickelt, sinnliche und künstlerische Erfahrungen etwa. Menschsein wird nur noch marktspezifisch bewertet. Humankapital heißt für Individuen, sich in den Markt zu fügen, verwertbar zu sein. Dann gibt es das verwertbare und das unverwertbare Leben. Sind wir da nicht schon nahe beim "werten" und "unwerten" Leben?

Die Furche: Nach der Krise applaudierten die Politiker, wenn es um Systemreform ging. Nun sind sie plötzlich ganz still.

Michalitsch: Ja, diese Wendung im Diskurs war 2009 schon sehr massiv. 2011 sprach EZB-Chef Mario Draghi vom "Ende des Sozialstaats" und Angela Merkel dann von der "marktkonformen Demokratie". Das ist nicht allzu weit von Viktor Orbáns "Illiberaler Demokratie" entfernt.

Die Furche: Was meinen Sie passiert, wenn die nächste Krise kommt?

Michalitsch: Ich möchte mir das gar nicht vorstellen. Was gegenwärtig passiert, ist schon dramatisch genug.

Gabriele Michalitsch

Als Forscherin untersucht sie die Veränderungen, denen das Subjekt durch die Ökonomisierung des Lebens unterworfen ist. Die Forderung, Unternehmer seiner selbst zu sein, deutet sie als Versuch der Kontrolle des Subjekts und seiner Leidenschaften.

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