Vertrauen, bis es weh tut

Werbung
Werbung
Werbung

Die "Lernwerkstatt im Wasserschloss", eine alternative Privatschule im niederösterreichischen Pottenbrunn, hat fast alle Dogmen über Bord geworfen - und versucht "Gewaltprävention im Alltag".

Es ist zehn Uhr vormittags. Und wo sind die Schulkinder zur besten Lernzeit des Tages? Draußen vor der Tür. Sie hüpfen im Garten am Trampolin herum und balancieren mit dem Einrad entlang der Brücke über den Wassergraben. Schließlich ist ein strahlender Herbsttag über Pottenbrunn nahe St. Pölten hereingebrochen - und wer wollte da in der Klasse sein?

Herkömmliche Klassenzimmer sucht man in der "Lernwerkstatt im Wasserschloss" freilich auch bei Schlechtwetter vergeblich - wie fast alles, was eine österreichische Regelschule prägt. Lehrer? Gibt es nicht. Nur "Betreuer" beobachten die Kinder - und erstellen täglich "Wahrnehmungsbögen". Schularbeiten? Ein Fremdwort. Noten? Erst recht. Nur bei den 15-jährigen Absolventinnen und Absolventen kommen sie zum Einsatz - und selbst dann haben die Beurteilten ein großes Wörtchen mitzureden.

16 Jahre ist es her, dass die Privatschule von reformpädagogisch orientierten Eltern gegründet wurde. Ausgerichtet an den Konzepten von Jean Piaget, Maria Montessori sowie Mauricio und Rebeca Wild erteilten sie Frontalunterricht und Zeugnisnoten eine Abfuhr. Im Zentrum des jahrgangsübergreifenden, freien Lernens der Sechs- bis 15-Jährigen sollten vielmehr individuelle Neugier und Gestaltungskraft stehen. Schließlich wurde der spezielle Lehrplan vor sechs Jahren vom Bildungsministerium genehmigt - und mit dem Öffentlichkeitsrecht belohnt.

Anders als bei konfessionellen Privatschulen sind die Lehrkräfte freilich selbst zu bezahlen. 333 Euro monatlich haben die Eltern der 93 Schülerinnen und Schüler zu entrichten. Dazu kommen acht Stunden "Elternarbeit" pro Monat - in der Verwaltung, bei der Instandhaltung des Gebäudes oder im Unterricht. So kommt es, dass ein Vater mit Physik-Studium den Kindern in der Primaria (sechs bis 13 Jahre) den Rückstoß von Luftballons erklärt. Oder ein Biologe jeden Freitag mit Freiwilligen zur nahen Traisen wandert.

Keine kleinen Opfer also. Dennoch reichen die Schüleranmeldungen bis ins Jahr 2010, wie Christine Glaser, Mutter zweier Lehrwerkstattabsolventinnen und Sekretärin der Schule, berichtet: "Unsere Grundlage ist das Vertrauen in die Entwicklung des Kindes." Wie schwierig es in der Praxis ist, diesen Vertrauensvorschuss zu leisten, hat die Mutter eines achtjährigen Mädchens freilich selbst erlebt: "Meine Tochter hat immer lieber gezeichnet als gelesen", erzählt Heidi Pilgerstorfer. "Erst als ihre Freundinnen zu lesen begonnen haben, hat sie sich dafür interessiert. Einen Monat später hat sie es dann können."

Diese "Vertrauenssache" habe bislang noch immer funktioniert, betont Schulleiter Norbert Mlinar, der während Aufenthalten in Südamerika von der "Pädagogik der Unterdrückten" des Paolo Freire geprägt wurde. "Nur bei Quereinsteigern aus Regelschulen kann es Probleme geben." Diese würden nicht selten zwei Jahre damit kämpfen, sich selbst ihre Lerninhalte suchen zu müssen - und nicht angeleitet zu werden. Umgekehrt sei es auch beim Umstieg von Absolventen der "Lernwerkstatt" in Regelschulen zu Schwierigkeiten gekommen. "Aber wenn sie sich für etwas interessieren, können sie den Stoff in kürzester Zeit nachholen", glaubt Mlinar. Zu den Selbstständigsten und Kreativsten der Klasse gehörten sie in jedem Fall.

Und noch ein Ass glaubt man in Pottenbrunn im Ärmel zu haben - die "selbstverständliche Gewaltprävention im Alltag". Durch den "ununterbrochenen Austausch zwischen den Kindern untereinander und zwischen Kindern und Lehrern" würden anfallende Konflikte rechtzeitig ausdiskutiert. Der "angstfreie", weil notenlose Unterricht, die wöchentliche Schulversammlung und die reichlichen Bewegungsmöglichkeiten würden zudem beitragen, dass kein Druck aufgestaut werden könne. Selbst Reibereien mit Pubertierenden seien weitgehend unbekannt, heißt es.

Haben also alternative Schulen einen Startvorteil bei der Gewaltprophylaxe? Ja, meint Klaus-Jürgen Tillmann, wissenschaftlicher Leiter der renommierten (und ebenfalls notenlosen) Laborschule Bielefeld - um zugleich zu relativieren: "Enge Sozialbezüge dämpfen die Aggressionen natürlich. Insofern sind Alternativschulen gewaltminimierend - aber nicht so sehr, weil sie didaktisch innovativ sind, sondern weil oft das Ausmaß an Zuwendung höher ist." Mit Regellosigkeit hätte das in keinem Fall zu tun, betont der Experte: "Die Schule muss klar machen, dass jede Form von Gewalt inakzeptabel ist. Sonst gerät sie schnell auf die schiefe Ebene."

Um das zu verhindern, hat man in der "Lernwerkstatt im Wasserschloss" die erste der fünf "Primaria-Regeln" klar und deutlich formuliert: "Wir tun einander nicht weh", steht zu lesen, "weder mit Worten noch mit Taten!"

Infos unter www.lernwerkstatt.ws

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung