"Viele kleine Schritte nötig"

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Flüchtlinge finden immer neue Wege nach Europa, auch wenn der Preis sehr hoch ist. Wie die EU gegen schlepper vorgehen sollte, erklärt Christoph Pinter vom UnHCR.

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Flüchtlinge finden immer neue Wege nach Europa, auch wenn der Preis sehr hoch ist. Wie die EU gegen schlepper vorgehen sollte, erklärt Christoph Pinter vom UnHCR.

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Wieso haben sich die Flüchtlingsrouten verlagert? Wie geht die Polizei damit um? Wie sollte die EU reagieren? Christoph Pinter, Leiter des UN-Flüchtlingshochkommissariats Österreich im FURCHE-Interview.

Die Furche: Im Vorjahr sind die Flüchtlinge vor allem über das zentrale Mittelmeer gekommen. Wohin haben sich die Flüchtlingsströme verlagert und wieso?

Christoph Pinter: 2014 war noch die Route von Libyen nach Italien am stärksten frequentiert. 2015 hat sich der Flüchtlingsstrom stark in das östliche Mittelmeer verlagert. In weiterer Folge wird die Westbalkanroute genutzt, also von Griechenland über Mazedonien,Serbien,UngarnnachÖsterreich, Deutschland oder Schweden. Die Routen werden von Schleppern gesteuert. Die Menschen können sich selbst kaum aussuchen, wie sie wohin gelangen. Ein zweiter Aspekt ist die Sicherheit. Die Flüchtlinge müssen nicht mehr den Umweg über die libysche Wüste machen, sondern landen über den Seeweg auf griechischen Inseln und nehmen dann den Landweg weiter.

Die Furche: Welche Herausforderungen sind für die Betroffenen mit den neuen Routen verbunden?

Pinter: Sie müssen sich Schlepperbanden anvertrauen. Das Abhängigkeitsverhältnis wird immer wieder ausgenützt, es kommt zu Übergriffen, Misshandlungen, sexueller Ausbeutung. Von der Wüstensituation in Afrika hört man in Europa noch viel zu wenig. Es passieren schon auf dem Weg nach Libyen unfassbare Situationen, wo Flüchtlinge in der Wüste verdursten, gefoltert und als Geiseln genommen werden und Lösegeld erpresst wird. Wenn wir in den Nachrichten sehen, wie vollgepfercht diese Schlepperautos sind, muss man mit einer Dunkelziffer von Todesopfern rechnen.

Die Furche: Die Transitmigration spielt sich größtenteils im Verborgenen ab. Was kann man tun?

Pinter: Menschen auf der Suche nach Sicherheit haben eigentlich keine Möglichkeit, legal nach Europa zu kommen. Es gibt so genannte Resettlement-Programme, wo Flüchtlinge vom UNHCR vorgeschlagen und von den Staaten dann aufgenommen werden. Und es gibt die Familienzusammenführung für engste Angehörigen. Aber das sind geringe Dimensionen.

Die Furche: Wie hat die Polizei in den letzten Jahren auf die Flüchtlingsströme reagiert?

Pinter: Schlepperbekämpfung war immer schon ein wichtiger Teil der Polizeiarbeit in Europa und hat jetzt noch mehr Gewicht bekommen durch die EU-Migrationsagenda. Es gibt auch länderübergreifende polizeiliche Kooperationen, etwa an der Brenner-Route entlang Italien, Österreich, Deutschland. Die Polizeiarbeit am Brenner ist vorbildlich human.

Die Furche: Welche Forderungen stellt der UNHCR an die europäische Politik?

Pinter: Man muss für die Menschen Perspektiven schaffen, sodass ein Flüchtling vielleicht gar nicht weg muss oder die Möglichkeit hat, über ein legales Programm wohin zu gelangen. Solange Schlepper die einzige Einreisemöglichkeit für Flüchtlinge sind, ist nachvollziehbar, dass Flüchtlinge sich dieser Dienste bedienen. Wir befürworten einen Ausbau von Resettlements und eine Erleichterung der Familienzusammenführung. Denn unter die Definition von Familie fallen nur Ehepartner und minderjährige Kinder, keine Geschwister oder Onkel, Tanten. Es gibt in Europa auch einen Bedarf an Arbeitsmigration, also sollte man unter Flüchtlingsgruppen schauen, ob es da adäquate Personen gibt. Eine Möglichkeit wäre auch, Studierenden-Visa und Stipendien an Flüchtlinge zu vergeben. Diese Maßnahmen sollten rasch umgesetzt werden.

Die Furche: Die EU-Staaten konnten sich nicht auf verbindliche Aufnahme-Quoten einigen. Wie nehmen Sie das Klima in der EU wahr?

Pinter: Das Stimmungsbild ist sehr durchwachsen. Es war schon enttäuschend, wie manche EU-Staaten auf das Pilotprojekt der Europäischen Kommission reagiert haben, 20.000 Flüchtlinge nach Europa zu holen und 40.000 weitere aus Italien und Griechenland in anderen EU-Ländern unterzubringen. Wir wollen die Hoffnung nicht aufgeben, dass sich alle EU-Staaten dazu bekennen, dass das Flüchtlingsthema nur gemeinsam gehandhabt werden kann. Den säumigen Staaten muss man schon klar machen, dass sich die Situation schnell ändern kann und sie plötzlich im Fokus der Problematik stehen, wie aktuell Ungarn. Es braucht mehr Weitblick - und rasch viele kleine Schritte.

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