Viele Vereine, aber wenig Zivilgesellschaft

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Welche Rolle können Vereine bei der Weiterentwicklung der Demokratie und der Schaffung von Freiräumen für die Bürger spielen?

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Welche Rolle können Vereine bei der Weiterentwicklung der Demokratie und der Schaffung von Freiräumen für die Bürger spielen?

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Vereine bilden als freiwillige interessenbezogene Gruppenbildungen einen wesentlichen Bestandteil zivilgesellschaftlicher Interessenvertretung und des politisch-sozialen Systems demokratischer Staaten. In der internationalen Diskussion über zivilgesellschaftliche Modelle gelten sie als ein Gradmesser für das Funktionieren nationaler Gesellschaften, weil sie flexible Formen der Schaffung von Gemeinschaftsgefühl darstellen, Formen der Bürgerpartizipation und damit eine kontrollierende Gegenöffentlichkeit zu staatlichen Institutionen anbieten. In welchem Ausmaß erfüllen Vereine in Österreich diese Funktionen und welche Rolle spielen organisierte Privatinteressen bei der Weiterentwicklung der Demokratie?

Auf den ersten Blick scheint es in Österreich mit der Vereinskultur nicht schlecht bestellt zu sein. Österreich besitzt eine lebendige und vielfältige Vereinslandschaft. Statistisch gesehen ist jeder Österreicher Mitglied in mehreren Vereinen und es gibt kaum einen Lebensbereich, in dem sich Interessenten nicht in einem entsprechenden Verein betätigen können. Sogar die Wiener Bestattungs- und VersicherungsservicegesmbH trägt den Namen "Wiener Verein". Andere Staaten beneiden Österreich um sein funktionierendes System der Freiwilligen Feuerwehren und nennen dies als Beispiel eines funktionierenden Kommunitarismus, in dem sich Bürger für gesellschaftliche Anliegen ehrenamtlich einsetzen. Dennoch ist bei einem generellen positiven Urteil Vorsicht anzumelden. Auch die politischen Parteien und Gewerkschaften sind Vereine und verfügen über im internationalen Vergleich herausragende, wenn auch sinkende Mitgliederzahlen. Vereinsmitgliedschaften haben in Österreich oft mehr mit der Erwartung zu tun, daß man etwas bekommt, als daß man etwas gibt.

Nur Eigeninteresse?

Es scheint das Verständnis dafür verlorengegangen zu sein, daß Vereine Selbsthilfeorganisationen sind, in denen man sich nicht nur für eigene, sondern auch für die Interessen von anderen einsetzt. In einer Demokratie sollten Vereine nicht den primären Zweck haben, ihre Mitglieder vor vermuteten oder realen Ungerechtigkeiten zu schützen und materielle Vorteile in Aussicht zu stellen. Ihre Aufgabe besteht darin, Freiräume zu schaffen und dort Sinn zu stiften, wo der Staat und der Markt dies aus ihrer Logik nicht können. Es ist zwar angenehm, wenn die Austrian Airlines wie andere Fluglinien einen Klub für Vielreisende einrichten, über den diverse Vergünstigungen zu beziehen sind, aber dies liegt vorrangig im kommerziellen Interesse der Fluglinie und hat nichts mit einer Zivilgesellschaft zu tun. Wenn staatliche Einrichtungen für die Abwicklung bestimmter Umverteilungsprozesse diese Aufgaben (etwa im Bildungsbereich) an oft vom Staat selbst initiierte und finanzierte Vereine übertragen, so mag dies wirtschaftlich effizient und politisch opportun sein, aber auch das stellt keinen Beitrag zur Förderung der Zivilgesellschaft dar.

Glaube an den Staat Das zivilgesellschaftliche Potential von Vereinen liegt darin, daß sie ehrenamtliches Engagement für gesellschaftliche Anliegen möglich machen und fördern und damit soziale Bindungen schaffen, die den Begriff von Solidarität nicht nur über die klassischen weltanschaulichen Großgruppen oder über den staatlichen Machtapparat vermitteln. Im Umwelt- und im Sozialbereich gibt es diese oft nur für einen spezifischen Zweck und auf eine beschränkte Dauer bestehenden Gemeinschaften bereits in großer Zahl. Aber es gibt große gesellschaftliche Bereiche wie etwa das Erziehungswesen und den Medienbereich, wo intermediäre Räume noch weitgehend fehlen. Wo sind zum Beispiel in Österreich die großen Absolventenvereine von Schulen und Hochschulen, die sich als Gemeinschaften verstehen, sich karitativen Zielen widmen und sich gesellschaftlich artikulieren? Wenn dies in Verbindung mit weltanschaulich-politischen Prinzipien wie etwa im Cartellverband existiert, dann vermutet sofort jeder gelernte Österreicher, daß es um Vetternwirtschaft und Postenversorgung geht.

Gerechtigkeit und Demokratie kann in Österreich scheinbar nur der Staat herstellen. Dies ist ein Kernproblem der politischen Kultur, das jeder zivilgesellschaftlichen Rolle von Vereinen und anderen Formen freiwilliger Organisationen in Österreich im Wege steht. Historisch gesehen sind der josephinische Beamtenstaat, die beiden Weltkriege, die großen weltanschaulichen Konflikte und der Kampf um die österreichische Identität die wesentlichen Gründe für eine hohe Staatsgläubigkeit, die seit 1945 politische Stabilität und Wohlfahrt garantiert. Die österreichischen Vereine hatten sich bis zur beginnenden Krise des Wohlfahrtsstaates in den siebziger Jahren mit dieser Situation abgefunden und sich weitgehend biedermeierlich verhalten. Erst die Finanzierungs- und Legitimitätskrisen des Staates haben seither für Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation neue Freiräume geschaffen.

Die Vorzüge von Vereinen sind leicht anzuführen. Die Mitgliedschaft ist freiwillig und verlangt eine bewußte Entscheidung, sich zu beteiligen. Sie bieten die Möglichkeit zu gesellschaftlichem Engagement und damit für die Übernahme von Verantwortung. Sie schaffen Interessengemeinschaften und soziale Verbundenheit. Die Wiederbelebung der Gemeinschaften wird in den USA als Heilmittel gegen die Bürde eines alles regulierenden Staates und gegen Anonymisierung angepriesen. Tatsächlich sind Angebote, Verantwortlichkeiten und damit konkret erlebbares "Glück" auf einer Ebene zwischen dem Individuum und den Großkategorien Nation, Politik und Staat zu übernehmen, für den einzelnen notwendig, um sich als Teil einer demokratisch organisierten Gesellschaft verstehen zu können. Aber damit Vereine einen Beitrag für eine zivilgesellschaftliche Modernisierung Österreichs leisten können, genügt es nicht ihre theoretischen Qualitäten zu preisen. Es müssen Organisationsprinzipien modernisiert, für die Arbeit in Vereinen neue Formen der Anerkennung entwickelt und Non-Profit-Organisationen in der Öffentlichkeit bekannt und geschätzt gemacht werden: Neu-Organisation 1. Traditionelle Institutionen müssen von sich aus den Kontakt mit Vereinen und neuen selbstorganisierten Interessengruppen suchen und dabei Machtverlust und kompliziertere Entscheidungsprozesse als Teil gesellschaftlicher Demokratisierung akzeptieren.

2. Die Vereine selbst müssen politischer werden. Wenn sie sich als Teil des öffentlichen Lebens verstehen, in dem Meinungen gebildet, artikuliert und vertreten werden, dann können sie Bürger für gesellschaftliche Anliegen motivieren.

3. Die klassischen Vereine mit Sitzungsprotokollen und Statutendiskussionen sind in der Krise. Werden sie zu groß und übernehmen sie materielle Umverteilungsaufgaben, dann entsteht ein Kontrollbedarf, der sie tendenziell zu verlängerten Armen des Staates macht und sie haben Schwierigkeiten, ein Potential an aktiver Partizipation der Mitglieder aufrechtzuerhalten.

Vielleicht täuscht der Eindruck, aber die relative Unbeweglichkeit des traditionellen Vereinswesens in Österreich scheint wesentlich dazu beigetragen zu haben, daß die Zahl der spontan organisierten Zusammenschlüsse, der "Bürgerinitiativen", rasch gewachsen ist. Diese sind manchmal formal als Vereine organisiert, oft aber eher lose, netzwerkartige, relativ labile und sich um ein aktuelles Thema gruppierende Zusammenschlüsse, die an Musils Parallelaktion erinnern, aber zumeist höchst effektiv sind. In der österreichischen politischen Kultur können Parallelaktionen als originärer Beitrag zur Diskussion um zivilgesellschaftliche Perspektiven gelten.

In der Diskussion um die Zivilgesellschaft geht es um die Schaffung öffentlicher Räume, die nicht verstaatlicht und kommerzialisiert sind, die aber trotzdem Sinn machen und Ansehen genießen. Manche dieser Räume werden weiterhin nach dem Vereinsgesetz organisiert sein, andere eher den Diskussionsplattformen im Internet gleichen. Die österreichische Gesellschaft kann von einem Wettbewerb um den Bürger nur profitieren.

Der Autor ist Direktor des Österreichischen Kulturinstitutes in London.

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