Frame - <strong>Frame</strong><br />
Eine der Wort-Bild-Kreationen von Tobias Marboe (1989–2018) - © Tobias Marboe

Tabu Suizid: Wie ein Vater um seinen Sohn trauert

19451960198020002020

Quälende Fragen, Suche nach Antworten und Zuversicht, Rituale, die Trost spenden und Menschen, die helfen. Gedanken eines Vaters zum Suizid seines Sohnes, der mit dieser Veröffentlichung bewusst ein Tabu bricht.

19451960198020002020

Quälende Fragen, Suche nach Antworten und Zuversicht, Rituale, die Trost spenden und Menschen, die helfen. Gedanken eines Vaters zum Suizid seines Sohnes, der mit dieser Veröffentlichung bewusst ein Tabu bricht.

Werbung
Werbung
Werbung

„Beschützer“, „hilfsbereit“, „Freigeist“, „großer Bruder“, „mein Vorbild“: Cousins, Cousinen, zwei Schwestern, der Bruder, einer nach dem anderen trat vor das Mikrofon der Aufbahrungshalle am Friedhof Meidling an jenem Montagnachmittag im Jänner. Statt einer Ansprache beschreiben all jene das Wesen des Verstorbenen, die noch wenige Wochen davor mit Tobias Weihnachten gefeiert haben. Nach der Bescherung stellten sie sich vor dem Christbaum für ein Gruppenfoto zusammen. Es sollte das letzte Familienbild mit Tobias werden.

Es hat Tage gebraucht, bis ich nach seinem Suizid die Kraft hatte, jenes Foto überhaupt anzusehen. Aber womit ich gleich, wenige Stunden nach der Katastrophe, begonnen habe, war die Suche nach Hoffnung. Schlagartig braucht man als Hinterbliebener Trost, man braucht Menschen um sich, die zuhören, Menschen, die ganz bestimmt nicht versuchen, irgendwelche Antworten zu geben auf unbeantwortbare Fragen.

Navigator

Liebe Leserin, Lieber Leser,

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig?
Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

diesen Text stellen wir Ihnen kostenlos zur Verfügung. Im FURCHE‐Navigator finden Sie tausende Artikel zu mehreren Jahrzehnten Zeitgeschichte. Neugierig?
Am schnellsten kommen Sie hier zu Ihrem Abo – gratis oder gerne auch bezahlt.
Herzlichen Dank, Ihre Doris Helmberger‐Fleckl (Chefredakteurin)

Tobias hat uns einen Abschiedsbrief hinterlassen: voller Liebe. Kein Wort eines Vorwurfs. Sehr wohl aber mit dem Gedanken, dass er seine Nichte Alma auf jeden Fall beschützen wird. Er hat uns damit die größte aller Hoffnungen gleich einmal selbst vermittelt: die Überzeugung und den Glauben an ein Leben nach dem Tod.

Und genau diese Hoffnung ist es, die ich mir nun als Antwort zurechtgelegt habe, wenn man mich fragt, wie es mir so geht: Dann sage ich, dass ich mir gar nicht so oft Gedanken über den Tod gemacht hätte, aber nun habe ich jedenfalls weniger Angst vor dem Sterben, denn ich möchte diesen Burschen wiedersehen – unbedingt! Und bevor noch die Sorge entsteht, ob ich denn selbst Todessehnsucht hätte, ergänze ich, dass ich nun aber auch weniger Angst vor dem Leben hätte, denn: Was soll mir noch passieren, nach dem, was uns widerfahren ist.

Nun habe ich weniger Angst vor dem Sterben, denn ich möchte diesen Burschen wiedersehen. Aber auch weniger Angst vor dem Leben, denn: Was soll mir noch passieren?

Manchmal, wenn dann weitergefragt wird, wie ich es mit dem eigenen Glauben nach dieser Zumutung des Schicksals hielte, stelle ich die Gegenfrage: Was hat Gott mit der Entscheidung unseres Sohnes zu tun? Tobias war Herr seines Lebens. Er hatte, wie jeder von uns, einen freien Willen. Wir sind selbstbestimmte, schöpferische Menschen. Wir sind keine Marionetten eines autoritären Gottes. Diese Freiheit, dieser freie Wille macht Liebe und Hoffnung überhaupt erst möglich. Diese Freiheit, dieser freie Wille eröffnet uns aber auch Abgründe. Sonst wäre es keine Freiheit. Die Chancen auf ein Leben nach dem Tod stehen doch 50:50, denn noch niemand konnte beweisen, dass es nach dem irdischen Leben vorbei und zu Ende ist.

Rituale spenden Trost

Abgesehen davon – und das ist für das Leben im Hier und Jetzt so wichtig, aber auch kaum zu verstehen, wenn man das selbst nicht erlebt hat – gibt es Rituale: ein Begräbnis, eine Seelenmesse, das gemeinsame Singen – sie liefern Trost. Und es gibt Geistliche, die da sind in solchen Momenten: P. Nikolaus Poch vom Schottenstift, der unseren Tobias von dessen Geburt bis zu seinem Tod kannte, fand die richtigen Worte: „Ihr könnt sehr stolz sein auf Tobi. Er hat niemandem etwas Böses getan. Das klingt so harmlos, aber es ist unendlich viel wert! Tobi war ein aufrechter Mensch, ein Mensch des Friedens, ein liebevoller Mensch, ein Gerechter. Tobi hat 29 Jahre gehabt, in denen er wahnsinnig viel erlebt hat. Vieles Tolles, offenbar auch viel Belastendes.“ Besser hätte man das einfach nicht sagen können. Ich kann nur allen wünschen, einen Priester um sich zu haben, der so agiert und so empathisch ist.

Auch Tobias war empathisch. Er hat in einer seiner Wort-Bild-Kreationen formuliert: „Die Hoffnung stirbt nicht zuletzt, weil sie gar nicht sterben kann!“ Er war allerdings als Kreativer in einer Zunft tätig, die zur Zeit wenig gilt. Die Würdigung für Arbeit, für Werke, für das, was man tut, ist heute in der Regel eine materielle. Wenn ich kein Geld verdiene mit dem, was ich tue, dann bin ich auch weniger wert. Dabei sollte es uns – wie Kardinal Schönborn einmal so treffend formuliert hat – weniger um Werte, mehr um Haltungen gehen. Aber leider hat in unserer Welt all das, was nicht abrechenbar, nicht naturwissenschaftlich beweisbar oder auch nicht messbar ist, kaum eine Relevanz. Tobias ist darüber augenscheinlich in eine Traurigkeit versunken, aus der nicht einmal mehr seine Familie ihm heraushelfen konnte.

Umgekehrter Werther-Effekt

Ich hadere also nicht mit Gott, ich hoffe auf Gott: mehr denn je. Wann, wenn nicht nach einem solchen Ereignis? Aber ich hadere mit drei Dingen:

  • Ich hadere mit dem Stolz in einer Familie wie der unseren: in der man sich bei manchen Themen offenbar lieber zurückzieht, als der Verwandtschaft das Herz zu öffnen.
  • Ich hadere mit dem Unwissen über die Vorzeichen von psychotischen Schüben. Wenn jemand Insulin braucht, dann ist das halt so; wenn jemand Medikamente für eine psychische Behandlung bräuchte, dann ist das in den Augen vieler Mitmenschen immer noch ein Makel.

Suizid ist ein Tabu. Aber wenn über dieses Tabu nicht geredet wird, dann bleiben jene allein, die ein solches Schicksal als Angehörige zu verarbeiten haben.

  • Ich hadere mit den gegenwärtig Regierenden, die den vermeintlich Fleißigen huldigen, die der Mehrheit nach dem Mund reden, die einen Künstler allenfalls als Kuriosität verstehen. Doch sollten sie die Anregungen und Werke aus Kunst und Kultur als Lebensmittel einer liberalen Demokratie verstehen.

Diese Zeilen schreibe ich in der Überzeugung, dass wir über Suizid in Qualitätsmedien und in der Öffentlichkeit durchaus mehr sprechen sollten. Es ist ein Tabu. Aber wenn über dieses Tabu nicht geredet wird, dann bleiben jene allein, die ein solches Schicksal als Angehörige zu verarbeiten haben. Und – wer weiß – vielleicht entsteht ein umgekehrter Werther-Effekt im Sinne von Prävention durch einen kultivierten und empathischen Diskurs.

Dementsprechend hadere ich nicht damit, was man nie erleben wollte und leider nicht mehr ändern kann, sondern ich hoffe auf ein Wiedersehen.

Der Autor war viele Jahre TV-Produzent und ist heute u. a. Obmann des Vereins VsUM (Vereins zur Förderung eines selbstbestimmten Umgangs mit Medien).

Hilfe im Krisenfall u. a.:

Österreichische Telefonseelsorge
(0–24 Uhr, kostenlos unter 142)
Psychiatrische Soforthilfe
(0–24 Uhr, 01/31 330, www.psd-wien.at)

Navigator

Hat Ihnen dieser Artikel gefallen?

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Mit einem Digital-Abo sichern Sie sich den Zugriff auf über 40.000 Artikel aus 20 Jahren Zeitgeschichte – und unterstützen gleichzeitig die FURCHE. Vielen Dank!

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung