Von Hühnern, Fiakern und Giftpilzen

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Mit Beginn des neuen Jahres sind beim Behindertengleichstellungsgesetz alle Übergangsfristen ausgelaufen. Was ist bisher gelungen? Und was bleibt noch zu tun, um das große Ziel weitgehender Barrierefreiheit in Österreich zu erreichen? Ein Gastkommentar.

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Mit Beginn des neuen Jahres sind beim Behindertengleichstellungsgesetz alle Übergangsfristen ausgelaufen. Was ist bisher gelungen? Und was bleibt noch zu tun, um das große Ziel weitgehender Barrierefreiheit in Österreich zu erreichen? Ein Gastkommentar.

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Als das Behindertengleichstellungsgesetz 2006 (BGStG) aus der Taufe gehoben wurde, wollte es niemand: Behinderte Menschen demonstrierten vor der ÖVP-Zentrale, hängten dort ein gerupftes Huhn auf die Türklinke und ließen mir liebe Grüße für das zerrupfte Gesetz ausrichten. Gleichzeitig standen bei der letzten Verhandlungsrunde zum Gesetz die Wirtschaftsvertreter, konfrontiert mit neuen Anliegen, vom Verhandlungstisch auf und verließen den Saal. Heute, zehn Jahre später, ist die Stimmung ähnlich, aber es ist Zeit, die Erfolge und Misserfolge zu analysieren.

Das Gleichstellungspaket hat viel bewegt. Die österreichische Gebärdensprache (ÖGS) wurde 2003 noch als "wilde Herumfuchtelei" angesehen: Gehörlose Kinder sollten die Lautsprache lernen, um Teil der Gesellschaft zu werden, das Sprechen mit den Händen lenke dabei nur ab. Ich ließ daraufhin alle meine Reden im Plenum in die ÖGS übersetzen: Die Dolmetscherin gebärdete für den damaligen Bundeskanzler Schüssel ein Mascherl, für den Nationalratspräsidenten Khsol einen Kohlkopf und für den Grünen-Abgeordneten Pilz ein Eierschwammerl, oder war es ein Giftpilz? Die Grünen-Kolleginnen und -Kollegen waren sich lachend uneinig. Es wurde allen im Parlament klar, dass die ÖGS eine vollwertige Sprache ist und man damit sogar Witze machen kann. Nicht zuletzt durch diese Bewusstseinsbildung gelang es, die ÖGS in der Verfassung anzuerkennen. Heute werden alle Reden im Plenum gebärdet, ebenso wie täglich die Zeit im Bild 1 und die Neujahrsansprachen des Bundespräsidenten, der dies ursprünglich abgelehnt hatte.

Das Bewusstsein in der Bevölkerung hat sich gewandelt, wenn es um Barrierefreiheit geht. Vor 20 Jahren war es aus feuerpolizeilichen Gründen sogar verboten, mit dem Rollstuhl die Wiener U-Bahn zu benutzen. Heute ist jede Station mit einem Lift und einem Blindenleitsystem ausgestattet. Auch ich fahre täglich mit meinem Elektrorollstuhl öffentlich in die Arbeit. Wann eine neue Niederflurstraßenbahn mit ausklappbarer Rampe kommen wird, ist an der Anzeigetafel oder am Handy ersichtlich. Ab und zu heißt es "bitte warten", aber auch das wird sich durch die Neuanschaffungen der Züge in den nächsten Jahren ändern. Das Gesetz sieht Etappenpläne für Verkehrsmittel und den Umbau von alten öffentlichen Gebäuden vor, beispielsweise wurden Bundesministerien und andere öffentliche Ämter bereits adaptiert, das Parlament soll 2018 barrierefrei umgebaut werden.

Vor einer Schadenersatzklage ist ein Schlichtungsverfahren gesetzlich verpflichtend. Nach dem Motto "beim Reden kumman die Leut zam" hat sich dies bewährt. Bei der Hälfte der Schlichtungsverfahren gab es eine Einigung -und ein langwieriges risikobehaftetes Gerichtsverfahren konnte verhindert werden. Keine Einigung gab es etwa zwischen einem gehörlosen Käufer einer DVD, die ohne Untertitel war, und dem ORF als Verkäufer. Im Prozess verurteilte der Richter den ORF aufgrund des BGStG zu einer Schadenersatzzahlung. Ein Präzedenzfall. Die generelle Untertitelung des ORF-Programms ist in den letzten zehn Jahren von 20 Prozent auf 65 Prozent in ORF 1 und 2 sowie 30 Prozent in ORF 3 angestiegen.

Im Gleichstellungspaket wurde auch die diskriminierende körperliche "Eignung" für den Lehrer- und Richterberuf gestrichen. Die Umsetzung war schwierig, doch nun können behinderte Studierende die pädagogische Hochschule besuchen und es gibt zwei blinde Richter im Verwaltungsgericht.

So viel zu den Rosinen in der Geburtstagstorte, zu der auch ein Fiaker mit Rollstuhlrampe gehört (s. Bild). Zur Negativbilanz zählt, dass die meisten Volks- und Neuen Mittelschulen noch nicht barrierefrei sind, während die Bundesschulen dies fast zur Gänze geschafft haben. Der Flughafen Wien war nach dem Zubau des neuen Gates weniger barrierefrei als vorher, was nachträglich kostenaufwändig geändert werden musste. Barrierefreies Bauen ist menschengerechtes Bauen, bei dem alle profitieren -auch Familien mit Kinderwägen, Kinder oder ältere Menschen. Zu fürchten braucht sich die Wirtschaft auch im neuen Jahr vor dem BGStG nicht. Für Unternehmen gilt weiterhin die Zumutbarkeit bei Adaptierungen.

Neben den baulichen Barrieren ist es aber die größte Herausforderung, die Barrieren in unseren Köpfen abzubauen! Vieles ist gelungen, aber jetzt, nach zehn Jahren Erfahrungen, ist es Zeit, Resümee zu ziehen, um die Gleichstellung im Sinne der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung weiterzuentwickeln.

Im Übrigen ist mir dieser Tage mitten im Wiener Winter ein Huhn zugeflogen, ein gut gefiedertes Sulmtalerhuhn. Ist das Zufall - oder doch ein Zeichen, dass wir auf dem richtigen Weg sind?

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