Heidi und Taschenmesser - © rechts: picturedesk.com / akg-image; links: Getty Images / Harold Cunningha

Von Mythen und Marken

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„Das Heidi“ und das Taschenmesser stehen für Heimatbewusstsein, Verlässlichkeit und gelten als die Schweizer Sinnbilder schlechthin. Zwei Exportschlager und ihre Analogien.

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„Das Heidi“ und das Taschenmesser stehen für Heimatbewusstsein, Verlässlichkeit und gelten als die Schweizer Sinnbilder schlechthin. Zwei Exportschlager und ihre Analogien.

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Beide fangen klein an, für beide geht es steil bergauf, beide kommen groß raus. Das Taschenmesser und der Kinderbuchstar: „Auf einem schmalen Pfad stieg ein kleines Mädchen von etwa fünf Jahren an der Hand einer jungen Frau den Berg hinauf zum Dörfl. Das Kind hatte hochrote Wangen und keuchte vor Anstrengung. Kein Wunder, denn es trug alle Kleider, die es besaß, übereinander, und schließlich noch ein dickes rotes Wolltuch.“ So wird Heidi im ersten Kapitel von „Heidiʼs Lehr- und Wanderjahre“ vorgestellt. 1880 erscheint das Buch mit dem Untertitel „Eine Geschichte für Kinder und auch für Solche, welche die Kinder lieb haben“ zum ersten Mal. Zig Auflagen und Übersetzungen, Spiel- und Zeichentrickfilme, Serien, Comics, Musicals bis heute folgten und machen das Buch zum Klassiker der Kinderbuchliteratur.

In Heidis Alter, mit fünf Jahren, bekam auch Carl Elsener sein erstes Taschenmesser geschenkt. Neben den Klingen, dem Schraubenzieher, Dosenöffner hatte auch dieses Messer, so wie jedes Abenteuer im Heidi-Buch, eine pädagogischen Zusatzfunktion. „Dieser Moment hat sich bei mir eingebrannt“, beschreibt Elsener seine gute Erinnerung daran, „denn es steckte die Aussage drin: ‚Du bist jetzt reif genug. Ein Stück erwachsener.‘ Mein Vater schenkte mir das Messer – und damit auch Vertrauen und Verantwortung. Auch in unserer Familie war es etwas Besonderes, ein Taschenmesser geschenkt zu bekommen.“

Krämerei als Start-up

„Unsere Familie“ ist die Schweizermesser-Dynastie Elsener im Innerschweizer Ibach nahe dem Vierwaldstättersee. 1884 fachte Karl Elsener I. die erste Glut in der Esse seiner Messerschmiedewerkstatt an. Einen Steinwurf ums Eck der heutigen Zentrale des Weltkonzerns steht dieses „Altvaterhaus“. „Altmutterhaus“ würde noch besser passen. Es war Victoria, die Mutter von Elsener Nummer eins und Ururgroßmutter des heutigen Firmenchefs, die das Start-up ihres Sohns kräftig unterstützte. Er durfte seine Messer in der Auslage ihrer Krämerei präsentieren. Zum Dank ist ihr Name an erster Stelle in die Firmenbezeichnung eingeschrieben: Victorinox. Das hintere Kürzel steht für „inoxydable“, Französisch für rostfrei. Von Anfang an setzte der Ibacher Schmied auf Spezialisierung. Anders sein, besser sein. An Rasiermessern übte er die Geschäftsphilosophie.

Mit dem Patent für das Schweizer Offiziersmesser 1887 gelang dem Tüftler sein bis heute in hunderten Varianten und millionenfacher Stückzahl geschmiedetes Meisterstück. Da war „Heidi kann brauchen, was es gelernt hat“, der Folgeband des Kinderabenteuers auf der Alm, bereits seit einigen Jahren mit gleichem Erfolg wie das erste Heidi-Buch erschienen. Aber nur in schriftstellerischer Hinsicht waren die 1880er Jahre für die Autorin Johanna Spyri gute Jahre: Im Mai 1884 verstarb ihr Sohn, im Dezember der Ehemann. Noch mehr schwarze Wolken in Spyris dunklem Lebenshimmel.

Eine von der Mutter übernommene obsessive Jesusfrömmigkeit, Depressionen, Schuldgefühle und Todessehnsucht beherrschten das Leben der Züricher „Frau Stadtschreiber“. Fotos von ihr zeigen sie in schwarzem Kleid mit Kreuz vor der Brust und streng zum Kranz geflochtenen Haar, meist in sinnender Pose, das Kinn auf die Hand gestützt. „Aber Freude strahlt nicht eines aus“, schreibt der frühere Zeit-Reporter Michael Schwelien in seinem Spyri-Porträt.

Die Schriftstellerei wird zur Selbsttherapie. Beim Schreiben schüttelt sie den psychischen Ballast von sich, wie Heidi auf dem Weg zur Alp ihre Kleider von sich wirft. „Ein erster Wurf ist meistens der beste“, lautet Spyris Zugang zum Schreiben. Sie schreibt schnell und häufig in der Nacht oder am frühen Morgen. Wie und wo sie die Inspiration für Heidi fand, ist nicht restlos geklärt. Ein Kurzbesuch oder Erholungsaufenthalt Spyris im schweizerisch-liechtensteinischen Grenzgebiet Graubündens gilt als die wahrscheinlichste geografische Verortung der Heidi-Kulisse. Aber auch andere Schweizer Orte stellten geografische Besitzansprüche auf dieses Kind mit dem Bekanntheitsgrad „wie Audi oder Coca-Cola“.

Als im Zuge einer Hollywoodverfilmung die Nachbarn nach dem Geschichtenstoff greifen wollten, war Schluss mit eidgenössischer Gelassenheit. Die Bündner Zeitung wetterte: „Nicht genug damit, dass die Österreicher uns Bündnern mit ihrer Gemütlichkeit die Wintertouristen wegschnappen; nein, jetzt soll auch noch ‚Heidiland‘ nach Österreich verlegt werden.“ Die Schweizer Antwort auf diese Kindesentführung erfolgte prompt und massiv: Anfang der 1990er Jahre eröffnete Mövenpick die Autobahnraststätte „Heidiland“ an der Kantonsgrenze zwischen Graubünden und St. Gallen.

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