Vorbeugen muss früh beginnen

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Regina Roller-Wirnsberger, Professorin für Geriatrie an der Medizinischen Universität Graz, plädiert für mehr Verantwortlichkeit gegenüber dem eigenen Leben, Altern und Sterben.

Seit dem Jahr 2006 hat Regina Roller-Wirnsberger an der Medizinischen Universität Graz das Wahlfach "Geriatrie“ angeboten. Seit Anfang Dezember ist die 47-jährige, zweifache Mutter nun Österreichs erste Professorin für Geriatrie an einer öffentlichen Universität. Erstmals wird in Graz für angehende Ärztinnen und Ärzte ein durchgängiges, geriatrisches Curriculum angeboten - inklusive Kommunikationstraining mit älteren Menschen.

Die Furche: Frau Roller-Wirnberger, was interessiert Sie am Fachbereich der Geriatrie, der ja lange Zeit stiefmütterlich behandelt worden ist?

Regina Roller-Wirnsberger: Es ist vor allem die große Interdisziplinarität, in der Diagnostik wie auch in der Therapie. Die Geriatrie schaut nicht nur auf ein Ereignis, sondern zielt auf integrierte Versorgungsmodelle alter Menschen ab - über alle Strukturen hinweg.

Die Furche: Die meisten denken beim Wort "Geriatrie“ vor allem an teure Pflegeleistungen. Wie lange werden wir uns diese angesichts der demographischen Entwicklung noch leisten können?

Roller-Wirnsberger: Man muss schon viel früher ansetzen und darf es gar nicht erst zu diesem massiven Pflegebedarf kommen lassen. Die Geriatrie ist ja in Wahrheit nicht nur bei mehrfach erkrankten, also multimorbiden 80- bis 90-Jährigen gefragt, sondern sie hat auch ein hohes Knowhow darüber, wie sich ein Mensch entwickelt, welche Worst-Case-Szenarien eintreten können. Insofern wird die Geriatrie künftig im Präventionsbereich eine ganz wichtige Rolle spielen. Wir bestimmen schon im mittleren Alter, wir wir als Hochaltrige leben werden. Und das Essverhalten unserer Kinder wird bestimmen, ob diese künftige Generation aus lauter dicken Alten bestehen wird, die sich nicht mehr rühren können und keine Muskulatur mehr haben. Man muss also sehr frühzeitig beginnen, sich für das Alter aufzubauen.

Die Furche: Trotzdem wird es immer mehr Pflege brauchen. Wie soll das künftig finanziert werden?

Roller-Wirnsberger: Wir werden jedenfalls völlig umdenken müssen. Derzeit kennen wir in Österreich vor allem Langzeitpflegeeinrichtungen, doch viele Menschen bräuchten das gar nicht und wären in Pflegeformen mit betreutem oder intergenerationellem Wohnen viel besser aufgehoben. Letztendlich zahlen wir den Preis für unsere Single-Haushalte: Vor 50 Jahren gab es Großfamilien, wo Generationen voneinander profitiert haben. Die Frage ist also auch: Wie entwickelt sich Österreich volkswirtschaftlich weiter? Schauen Sie nach Italien: Dort leben noch 30- oder 40-Jährige mit ihren Eltern in einer Wohnung, weil sie sich keine eigene leisten können. Man kann nicht vorhersehen, wie sich die wirtschaftliche Entwicklung gestalten wird.

Die Furche: Momentan heißt es Sparen: Laut Experten könnten im Gesundheitsbereich in den nächsten fünf Jahren 1,8 Milliarden Euro eingespart werden. Gibt es auch in der Geriatrie Einsparungspotenzial?

Roller-Wirnsberger: In diesem Bereich einzusparen, geht schon auf Grund der Patientenzahlen nicht. Man muss aber umschichten und die Wege im Gesundheitssystem durch Prozessoptimierung steuern. Schließlich sind die letzten zwei Lebensjahre eines Menschen, egal welchen Alters, die teuersten.

Die Furche: Wie soll diese Prozessoptimierung aussehen?

Roller-Wirnsberger: Aus den Schnittstellen zwischen den Versorgungsstrukturen müssen wir Nahtstellen entwickeln. Dazu gehört vor allem die Frage der Kommunikation im Gesundheits- und Sozialsystem. In der Steiermark sind wir begünstigt, weil wir erstmals das Sozial- und Pflegewesen mit dem Gesundheitswesen unter einem Dach haben. Das ist ein erster, wichtiger Schritt, um kostspielige Redundanzen wie Mehrfachzuweisungen zu vermeiden. Man muss versuchen, auch im Sinne der Betroffenen, die Menschen möglichst lange zu Hause zu halten und dort optimal zu versorgen.

Die Furche: Einen gewissen Zuwachs an Transparenz erhoffen sich viele von der elektronischen Gesundheitsakte ELGA. Ihre Meinung dazu?

Roller-Wirnsberger: Ob ELGA das ideale Mittel ist, weiß ich nicht, aber eine durchgehende Patientendokumentation ist sicher die Grundlage für ein integriertes Versorgungssystem. Ein Problem ist aber auch, dass wir in der Medizin nach Leitlinien für Einzelerkrankungen arbeiten, die geriatrischen Patienten jedoch viele Erkrankungen gleichzeitig haben. Wenn wir jede Erkrankung leitliniengerecht therapieren, dann kann es zur Multimedikation und zu gefährlichen Nebenwirkungen kommen.

Die Furche: Erst kürzlich hat Michael Berger, ärztlicher Leiter des Krankenhauses Sierning (OÖ), die mangelnde Medikamententestung an älteren Patienten problematisiert…

Roller-Wirnsberger: Das ist tatsächlich ein Problem. Viele klinische Studien schließen Patienten aus, weil sie ein hohes Alter und damit einhergehend auch eine eingeschränkte Nierenfunktion haben. Das ist dasselbe Problem wie bei den Kindern: In Wahrheit hinkt die Geriatrie 20 Jahre hinter der Pädiatrie her. Doch bei der europäischen Medizinagentur EMEA gibt es gerade massive Bestrebungen, bei Neuzulassungen von Präparaten darauf Rücksicht zu nehmen. Da wird sich sehr viel tun.

Die Furche: Auch beim Thema Demenz ist das zu erwarten: Schon jetzt leiden geschätzte 100.000 Menschen in Österreich darunter….

Roller-Wirnsberger: Ich glaube, dass die Dunkelziffern wesentlich höher liegen, weil wir in Österreich keine routinemäßige Demenzdiagnostik haben. Die Allgemeinmediziner, bei denen die Primärerkennung am leichtesten möglich wäre, haben derzeit formal gar nicht die Möglichkeit zu screenen. Demenz ist jedenfalls ein starkes Präventionsthema: Wichtig sind hier Bewegung, soziale Integration und vor allem Bildung. Man weiß aus den USA auch, dass Bewegung im jugendlichen Alter einer späteren kognitiven Einschränkung entgegenwirken kann. Wir sind also selbst für uns verantwortlich.

Die Furche: Eine besondere Form von Verantwortung kann man für sich selbst im Rahmen einer Patientenverfügung übernehmen…

Roller-Wirnsberger: Dieses Thema liegt mir sehr am Herzen. Es gibt fertige Formulare, die man beim Hausarzt ausfüllen und im günstigsten Fall notariell beglaubigen lassen kann. Die Patientenverfügung gibt mir konkret die Möglichkeit zu sagen, wenn der Fall X eintritt, dann möchte ich dieses und jenes nicht. Aber leider wird diese Möglichkeit, sich rechtzeitig mit dem eigenen Tod und dem eigenen Sterben auseinanderzusetzen, de facto überhaupt nicht angenommen. Viele Dinge passieren in Akutspitälern oder in Pflegeprozessen, weil nicht klar ist, was der Wunsch des Betroffenen gewesen wäre, und häufig versuchen wir Geriater, mit Angehörigen, Betreuern und Sachwaltern zu eruieren, was dieser Mensch denn gewollt hätte. Wir Ärzte sind ja verpflichtet zu einem kurativen Ansatz, wir haben alle den Eid des Hippokrates geschworen. Die Frage ist, in welche Richtung sich das entwickeln soll. In Österreich ist jeder der Meinung, irgend einer wird es schon für ihn richten. Doch die Strömung müsste eher in die Gegenrichtung gehen: Wir haben das Recht oder vielleicht sogar die Pflicht, auch das Ende unseres Lebens zu überdenken. Wenn man schon dement ist und sich nicht mehr rühren kann, dann ist es zu spät.

"In fünf Jahren bin ich hundert“

Der Psychologe Andreas Kumpf war "Zu Gast bei 21 glücklichen Menschen im Alter von 65 bis 95 Jahren“. Herausgekommen sind Porträts voll Weisheit, Nachdenklichkeit und Humor, die durch kongeniale Fotos von Carina Hinterberger und Sebastian Freiler ergänzt werden. Doch was macht "Glück im Alter“, so der Titel des Buches, wirklich aus? Für Hermine ist es ihre helle neue Wohnung im Pensionistenheim, für Hildegard eher der neue Führerschein. Ein beglückendes Buch. (dh)

Glück im Alter

Zu Besuch bei 21 glücklichen Menschen im Alter von 65 bis 95 Jahren. Von Andreas Kumpf, Pustet 2012

176 S., geb., e 25, -

Ab 8. Februar erhältlich

Kostbares Alter

Das diesjährige Symposion der ARGE Altenpastoral fragt: "Was ist uns das Alter wert?“. Am Mittwoch, 29. Februar, um 14 Uhr 30 referiert der Soziologe Reimer Gronemeyer; um 20 Uhr diskutieren u.a. Altbischof Johann Weber, FURCHE-Redakteur Otto Friedrich und seine Mutter Anna. Moderation: Doris Helmberger.

Kostbares Alter

Mittwoch, 29. 2., 14 Uhr bis Freitag, 2. 3., 12 Uhr. Bildungshaus St. Hippolyt, St. Pölten. Infos/Anmeldung (bis 8.2.): www.hiphaus.at, (02742) 352 104.

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