Vormarsch der Gleichgültigkeit

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Rücksichtnahme und Höflichkeit - zwei zartfarbene Schmetterlinge, die vom Aussterben bedroht sind. Brutalität, Frechheit und "sich gehen lassen" machen sich breit.

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Rücksichtnahme und Höflichkeit - zwei zartfarbene Schmetterlinge, die vom Aussterben bedroht sind. Brutalität, Frechheit und "sich gehen lassen" machen sich breit.

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Wenn ein polsterartiger Gegenstand geflogen kommt und um Haaresbreite die eigene Kopfregion verfehlt, so ist das keineswegs ein Anschlag auf diese, sondern der verwegene Versuch, einen Sitzplatz in den städtischen Verkehrsbetrieben mittels zielgenauem Schultaschenwurf zu reservieren.

Der solcherart Erschrockene, zufällig längst dem Schulalter Entwachsene, reagiert empört und läßt seinem Unmut über "die heutige Jugend" dementsprechend freien Lauf. Während das Subjekt dem Objekt unter gekonntem, beidseitigem Ellbogeneinsatz folgt und mit einem Urwaldlaut am ersten Etappenziel des neuen Tages niederplumpst - ein feineres Wort wäre unzutreffend - beginnt eine für manche Umstehende und -Sitzende erstaunliche Standpauke, wobei sich das Erstaunliche nicht nur auf den Inhalt, sondern auch auf die Wahl des Adressaten bezieht.

Eine rhetorisch bestens bestückte, vermutlich pädagogischen Wirkungsstätten nicht allzu ferne Dame im besten Alter: "Das ist ein typischer Reflex gestrigen Bürgertums. Wenn sich ein junger Mensch seiner momentanen Befindlichkeit entsprechend unangepaßt verhält, so wird kurzerhand der moralische Verfall der heutigen Jugend konstatiert. Ich sage Ihnen, dieser junge Mensch wird kein Duckmäuser, wie es die meisten ,Wohlerzogenen' früherer Generationen waren und sind. Er hat die Kraft - ja, lachen Sie nicht - die Kraft, sich nicht sympathieheischend anzubiedern. Ich fürchte nur um die vollständige Erhaltung seiner erfrischenden Ursprünglichkeit, weil heutzutage noch immer zu viele mit der Feile und ähnlichen Werkzeugen unterwegs sind, um sich an solchen Rohdiamanten zu schaffen zu machen."

In das rundum betretene Weg- und In-die-Luftschauen sowie das gequälte Schmunzeln fällt die brüchige Stimme eines alten Mannes, der von Beginn seiner Worte an kollapsgefährdet erscheint: "Sie haben wohl noch nie etwas von Rücksichtnahme gehört, wahrscheinlich waren Sie auch vom Religions-Unterricht abgemeldet, denn so ein egoistisches, brutales Verhalten, noch dazu eines jungen, gesunden Menschen, läßt sich am allerwenigsten mit Nächstenliebe vereinbaren. Schauen Sie dorthin, die alte Dame muß stehen und dieser Flegel lungert auf dem Sitz ..." - "Ich bitte Sie, lassen Sie nur, ich bin das schon gewöhnt" - Antwort der Vorrednerin: "Und Sie, mein Herr, wissen natürlich ganz genau, daß dieser junge Mensch um sovieles gesünder ist, um nicht auf einen Sitzplatz angewiesen zu sein." Der Angesprochene: "Körperlich schon, das sieht doch ein jeder."

Mittlerweile hat sich der lebenstüchtige Stein des Anstoßes, neben sich die klobige Schultasche als Platzhalter, gemütlich auf zwei Sitzplätzen eingerichtet.

Als häufigem Fahrgast kommen einem verschiedene "Besetzertypen" unter: Der Gelangweilte, mit steckengebliebenem Blick zum Fenster hinaus, der unter der Last des frühen Morgens alsbald Eingeschlafene und schließlich der Herausfordernde. Sein Ausdruck scheint allen, die fixierend, zumindest aber aus den Augenwinkeln auf den okkupierten Sitzplatz schauen, zu sagen: Jeder muß sich holen, was er kriegen kann; der Schnellere gewinnt, der Stärkere setzt sich durch. Und was die alten Leute betrifft, so heißt es doch überall: Gesund und fit bis ins hohe Alter, oder?

Es muß einem elementaren Lebensgefühl unserer Zeit entsprechen, Rücksichtnahme und Höflichkeit grundsätzlich mit Feigheit, Verklemmung und Liebedienerei gleichzusetzen. Es muß auch ein Nährboden, ein Klima dafür geben, daß man ehedem als edel angesehene menschliche Eigenschaften - womöglich wissenschaftlich untermauert - als Duckmäusertum bezeichnen darf. Es gibt jedenfalls Rechtfertigungen sonderzahl, um sich "gehen zu lassen". Wenn einem dann auch noch attestiert wird, daß man damit eigentlich auf einem "gesunden" Weg ist, so mögen sich viele Zeitgenossen darüber freuen, zwei Fliegen auf einen Schlag erwischt zu haben. Bei näherem Hinsehen sind es keine Fliegen, die man erschlägt, sondern zartfarbene Schmetterlinge, die bald vom Aussterben betroffen sein könnten.

Das zuletzt beschriebene Prachtexemplar hat an der Haltestelle einen zusteigenden Kumpel erblickt und brüllt ihn durch den Bus zu sich heran, um ihm den von der Schultasche warmgehaltenen Platz zu verschaffen. Als Fatalist könnte man nun feststellen, daß es unserer Zeit zumindest nicht an Freund- und Kameradschaft mangelt.

Ohne mich mit dem obigen Plädoyer in der Kernaussage irgendwie anfreunden zu können, würde ich als Pflichtverteidiger für diese besondere Art von Selbstbehauptung folgendes vorbringen: Junge Menschen können Ihnen in plastischer Weise Fälle schildern, in denen sie von gar nicht so gebrechlichen älteren Frauen oder Männern wortlos oder unter Schimpfworten mit einem Stock von ihrem Sitzplatz vertrieben wurden, obwohl in der Nähe genügend solche frei waren. Die Schüler rempeln uns sozusagen mit jenen schweren, wirbelsäulenschädigenden Schultaschen und Rucksäcken beiseite, die wir ihnen aufnötigen. Dieses Bild hat nicht nur eine körperliche Dimension.

Und es gibt sie doch! Und das gar nicht so selten: Schüler, junge Leute, die alten oder gehbehinderten Menschen, auch Müttern mit kleinen Kindern, ohne große Geste ihren Sitzplatz anbieten. Manche stehen wortlos auf, weil es ihnen peinlich wäre, groß bedankt zu werden, manche haben sogar ein paar freundliche Worte, die in Stück Anonymität in unserer Gesellschaft verscheuchen. In ihrem Erscheinungsbild strafen sie oftmals gewisse Klischees, womit man gerne bestimmte Eigenschaften in Verbindung bringt, Lügen.

Muß man also um diese jungen Menschen fürchten, weil sie vielleicht zuviel Herzensbildung und zuwenig Durchsetzungsvermögen haben? Höflichkeit und Zuvorkommenheit bedeutet hier, Mitmenschen in Dingen des alltäglichen Lebens zu erfreuen. Dies gewinnt dann besonderen Wert, wenn es nicht mit der Aussicht auf Dankschuldigkeit und Belohnung verbunden ist.

Inzwischen ist der Kumpel wieder ausgestiegen und die Schultasche blitzartig auf dem freigewordenen Nebensitz gelandet. Eine resolute, ältere Dame spricht unseren Hauptdarsteller an: "Ich möchte mich bitte hier her-setzen!" Und siehe da: Wortlos, mit leicht gelangweilter Miene, macht er Platz. So einfach funktioniert das - ist doch alles in Ordnung oder zeitgemäß ausgedrückt: Alles in der Norm.

Es bleibt nur ein bißchen Wehmut über den Vormarsch der Gleichgültigkeit und den gleichzeitigen Rückzug der Warmherzigkeit in allen Lebensbereichen.

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