Wahre Gedanken einer Volksanwältin

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Volksanwältin Gertrude Brinek hat Aufzeichnungen geführt und ein Buch geschrieben. Darin geht es um mehr als um Schicksale und Akten, wie sie im Interview erläutert. Das Gespräch führte Claus Reitan

In ihrem diese Woche im Parlament in Wien präsentierten Buch "Vom wahren Leben im Rechtsstaat“ analysiert Gertrude Brinek die Volksanwaltschaft, den Staat und seine Bürger.

Die Furche: Sie haben mit Ihren Aufzeichnungen einer Volksanwältin eigentlich ein politisches Buch vorgelegt.

Gertrude Brinek: Das bestreite ich nicht. Es kommt darauf an, wie das Wort politisch besetzt ist. Als Einladung, das Buch in die Hand zu nehmen, möchte ich es jedenfalls verstehen. Wenn mit dem Politischen das Gestalten, das Anregen, die Haltung, sich nicht zu verschweigen gemeint ist, dann ja, dann ist es ein politisches Buch.

Die Furche: Es geht auch um politisch als kritisches Bewusstsein, etwa im Sinne der 68er. Trifft das zu?

Brinek: Vom Lebenslauf her passt es. Es waren einerseits Lehrer, die auf meinem Bildungsweg - neben meiner familiären Prägung - dazu beigetragen haben, den Mut zum aufrechten Gang zu entwickeln. Dann ist auf der anderen Seite etwa Erhard Busek mit seinem politischen Anspruch zu nennen. Im Wesentlichen geht es mir um Freiheit durch Bildung und Selbstentwicklung. Ich bin gewissermaßen auch eine Frucht der Bildungs- und Schulreformen - derjenigen aus den 1960er-Jahren. Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, kritisches Denken zu erlernen, ein selbstständiger Mensch zu werden, das ist mein Weltbild. Je mehr an Erfahrung ich sammle, je mehr ich weiß, desto mehr bemerke ich, dass diese Vorstellung alternativlos ist. Demokratie funktioniert nicht anders. Das wollte ich meinen Schülern und Studenten auch immer mitgeben. Sie braucht verantwortungsbewusste Menschen, die sich engagieren und nicht delegieren.

Die Furche: In Ihrem Buch plädieren Sie für die Weiterentwicklung der Volksanwaltschaft, zugleich für ein neues Denken über den Staat, den Bürger ...

Brinek: ... und über die Relation des Bürgers, der Bürgerin zum Staat.

Die Furche: Sie zeigen einiges auf, worin der Obrigkeitsstaat zu korrigieren wäre ...

Brinek: Obrigkeits- und Versorgungsstaats-Denken bedeutet Abhängigkeit, Verzicht auf Autonomie.

Die Furche: Was sollte sich ändern: Die Regeln oder jene, die sie anwenden?

Brinek: Das Problem ist: Ich will einen funktionierenden Staat. Einen, der im Kern besser funktioniert als jetzt. Der koordiniert und steuert, wo Steuerung notwendig ist und nicht Leistungen anbietet und Regulierungen einzieht, die die Menschen selber erbringen können. Als Bürger darf ich den Staat nicht übermäßig strapazieren, nicht für alles beanspruchen, für alles verantwortlich machen, sodass dieser Staat dann kollabiert.

Die Furche: Das bedeutet also konkret, den Staat neu zu denken?

Brinek: Ja, das heißt es. Staatliche Leistungen sind mit Kosten verbunden, z. B. für die Verwaltung, die die Bürger über Steuern erbringen müssen. Den Staat kann man nicht als unendlich sprudelnde Quelle ansehen, ohne darüber nachzudenken, ob man nicht das eine oder andere selbst erledigen und entscheiden könnte - im Sinne des subsidiären Gedankens. Andererseits höre ich aus Gesprächen in der Volksanwaltschaft, dass Menschen, die in besonders widrige oder bemitleidenswerte Umstände geraten sind, in dieser Situation Hilfe vom Staat erwarten und sie nur bedingt erhalten oder die Hilfe wegen schlechter oder unüberschaubarer Organisation nicht ankommt. Also: bestmögliche Strukturen und effiziente Lösungen. Wird der Staat überstrapaziert, versagt er, wenn er wirklich gebraucht wird. Die Folgen sind radikale Sparpakete.

Die Furche: Also den Bürger neu denken?

Brinek: Das Mott muss lauten: Nimm dein Schicksal selbst in die Hand ...

Die Furche: Verantwortung wahrnehmen?

Brinek: Es gibt Bürger, die in ihren Lebensverhältnissen bestens ausgestattet sind und sich erwarten, dass sie der Staat vor den eigenen Dummheiten schützt. Das entsetzt mich. Es gibt auch solche, die zeitweise oder dauernd in einer misslichen Situation sind und nicht wissen, wer hilft. Genau da muss der Staat funktionieren. Ich will, dass Menschen jedenfalls im "worst case“ nicht allein gelassen sind. Solange Bürger noch selbst handeln können und Verantwortung übernehmen, müssen sie es tun.

Die Furche: Die von Ihnen im Buch erwähnte Debatte des Kommunitarismus wurde bei uns nicht geführt?

Brinek: Was ich sehr bedauere und weswegen ich auf die beispielsweise in Deutschland geführte Diskussion zurückgreife: Wir müssen fragen: Welches gemeinsame Verständnis von Demokratie brauchen wir, damit diese nicht zu einer Abstimmungs- und Plebiszit-Maschinerie verkommt?

Die Furche: Wissenschafter bemängeln, der Konsument habe über den Bürger gesiegt?

Brinek: Aus rund 2000 Bürgergesprächen habe ich viele Eindrücke gewonnen. Bei einigen Menschen habe ich die Frage herausgehört, wie sie denn ein Gesetz umgehen könnten, wenn dieses ihren unmittelbaren Interessen nicht entspricht. Es gibt eine latente Grundstimmung, wonach man sich vom Staat so viel holen soll, wie nur geht.

Die Furche: Sie zeigen einige krasse Fälle auf, in denen Bürger erst durch die Volksanwaltschaft zu ihrem Recht kamen. Die Volksanwaltschaft erhält jetzt mehr Rechte?

Brinek: Die Volksanwaltschaft hat vom Parlament einen neuen, zusätzlichen Arbeits-Auftrag erhalten. Es geht um Menschen in angehaltenen Situationen, etwa um solche, die pflegebedürftig oder schwer krank sind. Um Personen, die nicht mehr vollständig über sich bestimmen können. Die Volksanwaltschaft wird die entsprechenden Einrichtungen besuchen und ihre Qualität überprüfen. Dieser Auftrag eines umfassenden Menschenrechtsschutzes und das Beobachten und Veranlassen von Verbesserungs-Maßnahmen gehören ab 1. Juli zu den Aufgaben der Volksanwaltschaft. Wir sind in der heißen Phase der Vorbereitung. Wir kooperieren mit Dutzenden neuer Leute, haben neue Mitarbeiter im Haus. Insgesamt werden wir eine Veränderung der Prüf-Kultur anstreben und erreichen.

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