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Der Physiker Herbert Pietschmann wünscht sich die Überwindung der Differenz zwischen Wahrheit und Wissen.

Herbert Pietschmann: Als im 16. Jahrhundert die Kalenderreform anstand, musste die Kirche so genannte "Kalendermacher" ernennen. Sie legten ihren Berechnungen das System des Kopernikus zugrunde, wonach die Sonne ruhe und die Erde sich im Kreis um sie bewege. Da dies einigen Stellen der Heiligen Schrift widersprach, führte die Kirche die Unterscheidung von Wahrheit und Hypothese ein. Hypothesen waren nach ihrer Zweckmäßigkeit zu beurteilen und da sie sich nie auf das Ganze bezogen, seien sie ihrer Natur nach falsch. Unter diesen Voraussetzungen waren sie erlaubt.

Die Naturwissenschaft war geboren, als Galilei zeigte, dass Hypothesen nicht beliebig sind, sondern durch das Experiment geprüft werden können. Wenn nur eine einzige Hypothese vom Experiment unwidersprochen blieb, dann sprach Galilei von "Kenntnis" oder "Wissen" über die Natur. Die "Wahrheit" bliebe davon unberührt, betonte Galilei. Durch den unerwarteten Erfolg der Methode geriet im 18. Jahrhundert unser "Wissen" in Konkurrenz zur "Wahrheit".

Heute erleben wir die Konsequenzen in der Spaßgesellschaft, der Verdrängung aller Transzendenz und den überhand nehmenden Depressionen. Solange in den theologischen Fakultäten - wie übrigens auch in den meisten anderen - wissenschaftliche Selbstgespräche geführt werden, können wir nicht auf eine Aufhebung dieses Widerspruches zwischen Wahrheit und Wissen hoffen. Die kürzlich aufgeflammte Diskussion um den Evolutionismus lässt aber hoffen, dass noch nicht das letzte Wort in diesem Problemfeld gesprochen ist.

Mir scheint die Aufgabe einer praktischen Theologie vor allem darin zu liegen, eine Brücke zu schaffen zwischen Wahrheit und Wissen in der Lebenswelt der Laien.

Eva Maltrovsky: Praktische Theologie kann es sich nicht leisten, wissenschaftliche Selbstgespräche zu führen. Gerade der Fachbereich Religionspädagogik wird von den Jugendlichen nicht nur gefordert, sondern heraus-gefordert, auf ihre Denkwelten und Lebensrealitäten zu reagieren, herausgefordert, aus einem geschlossenen Gebäude der Theologie zu treten.

Regina Polak: Die Frage nach der Wahrheit ist natürlich für die Theologie eine Schlüsselfrage. Gerade unser Fach ermöglicht hier einen besonderen Zugang: Wahrheit erweist sich als Ereignis, als Prozess, in dem sich durch alle Geschichte, durch alles Glück und Leid hindurch Gott als der erweist, der seiner Menschheit in unwiderruflicher Liebe und Treue zur Seite steht. Diese Wahrheit lässt sich erkennen, verstehen, glauben - so der Befund von Glaube, Schrift und Tradition. Dies wahrzunehmen, im ganz konkreten Handeln und Leben der Menschen, der Zeitgenoss/inn/en, dies zu deuten, ist die spezifische Chance der Praktischen Theologie. Dies ist natürlich ein ganz anderer Wahrheitsbegriff als der (mitunter positivistische, empiristisch verengte) der Naturwissenschaft - und leider auch manchmal der Philosophie.

Ursula Hamachers-Zuba: Es ist daher wichtig, den intellektuellen Bruch zwischen Wahrheit und Wissen zu bearbeiten und Religion nicht nur auf der Erfahrungsebene abzuhandeln, sondern vernünftig zu argumentieren und zu rechtfertigen. Dann ist ein Wahrheitsverständnis möglich, das lebensrelevant und lebensnah ist. Die Auflösung von logischen Widersprüchen und die Versöhnung zwischen Wissen und Wahrheit allein löst keine Depression und weist nicht den Weg aus der Spaßgesellschaft.

Pietschmann: Sie haben ein wichtiges Problem angesprochen! Mir geht es meist zunächst um die Differenz Wahrheit-Wissen. Aber es ist wahr, dass wir uns auch um die Vermittlung kümmern müssen! Ich halte das für ein dialektisches Problem, bei dem nicht nur das Leugnen des Unterschiedes gefährlich ist, sondern eben auch die Trennung ohne Kommunikation. Meine zwei Maximen sind wieder relevant: 1. Unterscheide ohne zu trennen 2. Vereine ohne zu egalisieren.

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