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Wann und warum aus Kindern Schüler werden sollen. Notizen zur laufenden Betreuungsdebatte von Marian Heitger.

Dass aus Kindern Schüler werden sollen, scheint eine ausgemachte Sache. Der kleine Erdenbürger muss lernen, als Erwachsener ein selbständiges Leben zu führen, für sich selbst aufzukommen, seinen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten; er soll am kulturellen Leben teilnehmen können, in den ernsthaften Herausforderungen des Lebens bestehen, er soll ein gebildeter Bürger sein, mit Urteils-und Verantwortungsfähigkeit sein Leben führen. Die Schule mit dem Angebot von Unterricht und Erziehung soll ihm dabei helfen.

Die gegenwärtige Bildungspolitik sieht sich mit der Herausforderung konfrontiert, dass viele Kinder für die sogenannte Einschulung die notwendigen Voraussetzungen noch nicht erworben haben, immer lauter werden die Stimmen, die eine vorschulische Betreuung für die Kinder fordern, d. h. das Kind möglichst bald zum Schüler zu machen. Vielfältige Gründe werden für den frühzeitigen Übergang der Kinder in Formen der schulischen Betreuung angeführt.

Die Mütter haben vielfach den Wunsch, bald nach der Geburt wieder in die Berufstätigkeit zu kommen, man verweist auf das Zerfallen der konventionellen Familienstruktur - mehr als die Hälfte der Ehen in Wien wird geschieden, alleinerziehende Mütter oder Väter sind an der Tagesordnung. Ökonomische Gründe werden für die Berufstätigkeit beider Elternteile angeführt, die familiäre Betreuung und Führung des Kindes in der Familie scheint gefährdet. Wer aber in der Schule nicht mitkommt, wird auch nach dem Schulabschluss den Forderungen für den Eintritt in das Berufsleben nicht gerecht. In der Tat klagt die Wirtschaft über diesen Mangel, sie drängt auf einen frühen Einsatz der Ressource menschliche Arbeitskraft in die Produktion. Auf die Gefahr der bloß ökonomischen Betrachtung dieses Problems hat Regine Bogensberger (Furche Nr. 9/1. März, Seite 1) aufmerksam gemacht.

Ungeteilte Ganzheit

Wenn man das Problem unabhängig von ideologischen Festlegungen betrachten will, dann muss man die bildungspolitischen Entscheidungen unter dem Auftrag der Bildung sehen, dem die Gesellschaft der Erwachsenen verpflichtet ist; dann wird man sich Gedanken darüber machen müssen, wodurch das Kindsein bestimmt ist, was denn Kindsein für den Menschen und seine Entwicklung bedeutet.

Kindsein, das ist die ungeteilte Ganzheit des Lebens. Hier wird noch nicht unterschieden nach Pflicht und Neigung, nach Arbeit und Spiel, die Zeit ist noch eine Ganzheit. Das Leben ist eine ungeteilte und unmittelbare Einheit. Freud und Leid finden ihren Trost in der Geborgenheit der Familie, in der Nähe zur schützenden Mutter bzw. dem Vater.

Aber die Geborgenheit in der Familie bedeutet nicht die Dauerbevormundung des Kindes. Denn schließlich soll es lernen, in Selbständigkeit und Verantwortung sein Leben zu führen. Das Heraustreten aus der schützenden Geborgenheit in die Ungeborgenheit des Lebens mit all seinen Risiken, mit Wagnis und Rückschlägen bleibt eine immerwährende Herausforderung. Auf dem Wege zum Erwachsenwerden sind viele Aufgaben wahrzunehmen: vom Heraustreten des Kindes aus der Geborgenheit des Mutterleibes in die Welt des Kindes, von dieser in die Welt der Schule, von der Schule im weitesten Sinne in die Welt des ernsthaften Arbeitens mit der Verpflichtung, für sich in eigener Autonomie aufzukommen und einen Beitrag für die Gemeinschaft zu leisten.

Dieser Weg sollte kindgemäß verlaufen. Jede der Stufen stellt spezifische Herausforderungen für das Menschwerden dar. Sie definieren sich nicht in den Interessen des ökonomischen Fortschritts, auch nicht in den politischen Interessen einer vorgegebenen Emanzipation; sie finden ihren Sinn in der Ermöglichung von Bildung.

Die besten Bedingungen dafür sind in der Familie zu finden. Sie begründet jene Geborgenheit der gegenseitigen Liebe, die den Weg in die Welt begleitet. Familie ist der Ort, in dem das Leben in seiner Universalität erfahren wird, in der die intimsten Vorgänge des Lebens ungeschützt geäußert werden können, in dem das Kind ohne Angst und unmittelbar sich lebt.

Nicht die opportunistische Anpassung an den Zeitgeist darf unsere Pädagogik bestimmen, sondern die Sorge um die Möglichkeit einer guten Bildung unserer Kinder. Und die brauchen zu ihrer Entfaltung in den ersten Lebensjahren eine behütete und von den institutionellen Zwängen staatlicher Einrichtung freigehaltene Lebensform.

Schutz der Familie

Wenn man den pädagogischen Entwicklungspsychologen glauben darf, dann hat die erste Lebenszeit die Aufgabe, dass der kleine Erdenbürger lernt, mit seinem Körper umzugehen, seine Bewegungen zu ordnen. Das lässt sich nicht organisieren, das bedarf der individuellen Pflege und Anregung. Das ist nicht in einem Curriculum zu fassen, das ist nicht als Leistung messbar, das lässt sich auch nicht organisieren. Auch in der nächsten Phase ist nichts mit organisiertem Unterricht, nichts mit organisiertem pädagogischen Planen auszurichten. Das Kleinkind versucht spielerisch nicht nur seinen Körper, sondern auch dessen Verhältnis zu den Gegenständen zu erfahren. Es wagt sich unter dem Schutz der vertrauten Eltern immer weiter hinaus. Dies Wagnis bleibt gebunden an begleitende Geborgenheit der Familie.

Dazu kommen die ersten Versuche die Gegenstände zu benennen, die Entwicklung von Sprache setzt ein. Wiederum sind die Eltern gefordert, das Kind selbst durch unmittelbare Sprache anzuregen, das Gemeinte der ersten Laute zu verstehen.

Bekannt ist für die nächste Phase der Entfaltung des Kindes das Phänomen der immer wiederkehrenden Fragen: Warum? Diese Fragen wollen kein Ende nehmen, sie erfolgen zwar in ungeordneter Unbefangenheit, dennoch dürfen die kindgemäßen Antworten nicht verweigert werden. Erst in der nächsten Phase gewinnt das Kind ein Bewusstsein von Aufgaben. Damit verbunden ist das Erfahren von Zeit, von Anfang und Ende etwa in der Wahrnehmung einer Aufgabe. Das ist die eigentliche Bedingung von Schulfähigkeit.

Zum ersten Mal tritt das Kind in ein Leben der geregelten institutionellen Vorgaben. Das Leben in der unbekümmerten Hingabe an das Spiel mit all seinen Möglichkeiten muss eingeschränkt werden. Es beginnt die Zeit der nunmehr das Leben bestimmenden Pflichten. Der Tag hat eine von außen auferlegte Struktur. Die Zeit ist geregelt, man verlangt, dass man sie einhält, dass man pünktlich zur Schule kommt, sich an eine Stundeneinteilung hält, vorgeschriebene Aufgaben übernimmt, dass man sich überhaupt einer institutionellen Ordnung fügt, dass man nun in der Lage ist, Freizeit von der "Arbeitszeit" zu unterscheiden.

Geraubte Kindheit

Die vordringliche Motivation heute aber ist nicht die Sorge um Bildung, sondern die um die Brauchbarkeit der jungen Menschen in der Arbeits-und Betriebswelt. Auch die Europäische Kommission sieht das Grundanliegen der Bildungspolitik in der Anpassung "an die Perspektiven des Arbeitsmarktes und der Beschäftigung". Diese Absicht scheint mittlerweile die frühe Kindheit erreicht zu haben. Wenn Vorschuleinrichtungen durch diesen Zweck motiviert sind, dann ist allerdings Vorsicht geboten.

Anders ist die Situation in bedrängenden Notfällen, wenn die Kinder von Immigranten in die Schule gehen, ohne die Unterrichtssprache zu verstehen, wenn wegen der familiären Situation die Kinder so vernachlässigt werden, dass Schulfähigkeit nicht erreicht wurde. Hier kann und muss der Staat eingreifen, muss subsidiär Möglichkeiten zur Verfügung stellen. Das kann auch verpflichtenden Charakter haben, so wie die Einführung der Schulpflicht der Kinderarbeit entgegenwirken sollte, das darf aber nicht dazu führen, ohne Not den jungen Menschen ihre Kindheit zu rauben. Das müsste vor allem ein neues Bewusstsein für das Kind schaffen, für die Bedeutung der frühkindlichen Pflege und Erziehung.

Der Autor ist emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Wien.

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