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Gibt es ein europäisches Sozialmodell? Sozialforscher Bernd Marin sagt "Nein". Und für Sozialministerin Ursula Haubner ist das auch gut so.

Das europäische Sozialmodell? Ja, das ist wie ein Kaufhaus im Kommunismus", meinte Sozialforscher Bernd Marin in Alpbach. Und erklärte das Bild: "Lebensmittel? Da geht man ins Erdgeschoss, wo es sie nicht gibt. Bekleidung? Bitte in den ersten Stock, dort gibt es sie nicht. Und Küchengeräte? Die sind im zweiten Stock - natürlich nicht zu haben." Und so werde eben auch vom europäischen Sozialmodell geredet und von seinem Bestehen ausgegangen, aber es existiere nicht, betonte der Direktor des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung. "Europa hat ein Problem: Es definiert seine Identität über ein Sozialmodell, das es nicht in die Realität umsetzen kann." Auf der Suche nach einem solchen Modell stoße man schnell auf völlig unterschiedliche Sichtweisen: "Was hat denn das Sozialmodell von Frankreich mit dem Modell von Irland gemeinsam? Nichts."

Kein Modell, keine Identität

Marin weiter: "Wir haben eine geringere Beschäftigungsquote als in den 70er Jahren, und was, bitteschön, ist sozial an der englischen Mindestpension von 312 Pfund (462 Euro, Anm.)?" Die Bandbreite in Europa sei enorm, sie gehe vom neoliberalen Modell Irlands über das skandinavische Modell mit neoliberaler Öffnung bei gleichzeitiger höherer Sicherheit bis zu "so kranken Ländern wie Deutschland oder Italien."

Überhaupt sei Europa "zutiefst krank: Wir haben 19 Millionen Arbeitslose, und 92 Millionen Leute sind inaktiv. In meiner Altersgruppe (Marin ist Ende 50, Anm.) kommen auf jeden Arbeitslosen 90 bis 100 Inaktive." Inaktive, die also gar nicht auf der Suche nach Arbeit sind. Für den Sozialforscher ein Beleg dafür, dass das Lissabon-Ziel, bis im Jahr 2010 in der Gruppe der 55-bis 65-Jährigen eine Beschäftigungsquote von mindestens 50 Prozent zu erreichen, in weiter Ferne sei. "Dieses Ziel erreichen wir vielleicht bis 2025."

Dass es gar kein europäisches Sozialmodell geben könne, betonte Sozialministerin Ursula Haubner (bzö). Es gebe gemeinsame Werthaltungen, etwa die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, Diskriminierungsverbote und das Recht auf Zugang zu sozialen Diensten. "Das ist die gemeinsame Klammer trotz aller nationaler Unterschiede." Ein gemeinsames Sozialmodell könne sich jedoch nicht etablieren angesichts der völlig unterschiedlichen Ausgangssituationen in den einzelnen Mitgliedsstaaten: "Wir haben Sozialquoten von 14 bis 33 Prozent des bip, und eine Armutsgefährdung von acht bis 21 Prozent der Menschen. Wie soll es dafür einheitliche Antworten in einem einheitlichen Sozialmodell geben?" Aber man müsse gemeinsame Werte, Ziele und Methoden definieren, in denen die Beseitigung der Armut und der Zugang zu Medizin und Pflege große Bedeutung haben müssten. Haubner betonte dabei die Schlüsselrolle der Familie "als Ort gelebter Solidarität trotz großer Veränderungen der Familienstruktur". Um diese Schlüsselrolle beibehalten zu können, forderte Haubner eine Partnerschaft zwischen Wirtschaft, Familien und Politik, "denn alle drei müssen Verantwortung übernehmen für eine generationengerechte Arbeitswelt." Auch mehr Unterstützung für pflegende Angehörige und höhere Investitionen in Prävention seien dringend notwendig.

Die Dinge formen

Dass sich der Staat nicht völlig aus seiner Verantwortung stehlen könne und auch für soziale Komponenten der Wirtschaft zuständig sei, betonte auch Wilfried Stadler, Investkredit-Vorstandsvorsitzender und Furche-Herausgeber. Gerade in Zeiten der fortschreitenden Globalisierung täten sich viele Chancen auf, "aber die Globalisierung wird von vielen als überfordernd erlebt, weil sie ein weitgehend sich selbst überlassener Prozess ist." Dabei verhalte es sich mit der Marktwirtschaft - frei nach dem Ökonomen Josef Schumpeter - wie mit einem Auto: Mit eingebauten Bremsen lasse es sich viel schneller fahren als ohne. Stadler forderte daher zu mehr Mut auf: "Wir dürfen uns ordnungspolitisch große Entwürfe zutrauen, nämlich eine verantwortete Marktwirtschaft mit dem klaren Primat der Politik bezüglich der Frage, ob Marktwirtschaft sozial und ökologisch nachhaltig agiert." Und er zitierte Friedrich Schiller: "Wir würden uns schämen uns nachsagen zu lassen, dass die Dinge uns formten und nicht wir die Dinge."

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