Wege ins Reich der Ahnen

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Der Tod ist universal. Doch wie die Lebenden damit umgehen, ist so vielfältig wie die Kulturen und Gesellschaften dieser Welt selbst (siehe auch Seite 6).

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Der Tod ist universal. Doch wie die Lebenden damit umgehen, ist so vielfältig wie die Kulturen und Gesellschaften dieser Welt selbst (siehe auch Seite 6).

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Der Tod ist ein so wichtiges Ereignis, dass ihn die meisten Kulturen mythologisch und rituell einfassen und ihm damit einen Platz in der Welt einräumen.

So hat beispielsweise das O-Bon Fest Mitte August in Japan einen Festcharakter, bei dem sich buddhistische und shintoistische Vorstellungen mischen. Zu O-Bon kommen die Seelen der Toten aus dem Jenseits zu Besuch. Ein Tag, an dem es überaus fröhlich zugeht, obwohl der Tod in Japan prinzipiell eine überaus ernste Angelegenheit ist. Berühmt sind die O-Bon Tänze in manchen Gegenden Japans, schildert der Japanologe Bernd Scheid: "Die Tänze haben zum Teil den Charakter von Umkehrriten, die soziale Ordnung wird außer Kraft gesetzt, jeder kann machen, was er will. Manchmal tragen die Tänze auch promiskuäre Züge." Doch die Seelen sollen auch wieder gut zurück ins Jenseits kommen: auf kleinen, mit Kerzen geschmückten Schiffen werden sie wieder ins Totenreich zurückgeschickt.

Wahrscheinlich gibt es keine Gesellschaft, die ihre Toten nicht mit Ehrfurcht behandelt, stellte der französische Anthropologe Claude Levi Strauss fest. Wie jedoch mit dem Leichnam umgegangen wird, das ist fast so verschieden, wie die Kulturen selbst. Während eine Verbrennung im Katholizismus bis in die jüngste Vergangenheit verpönt war, galt die Kremation in anderen Religionen als Hilfe beim Weg ins Jenseits.

In Indien muss der Sohn den Scheiterhaufen seines verstorbenen Vaters anzünden, denn ohne korrekt vollzogenen Verbrennungsritus muss der Tote einen höchst dornenreichen Weg bis zur nächsten Wiedergeburt durchlaufen. Die Asche wird im Fluss bestattet. Nicht überall sind also Friedhöfe sichtbare Orte einer letzten Ruhestätte. Diese Erfahrung musste die Ethnologin Gerti Seiser machen, als sie im vergangenen Sommer an einer Expedition in die Mongolei teilnahm. Immer wieder, wenn die Gruppe irgendwo nächtigen wollte, orteten die mongolischen Reisebegleiter gerade an dieser Stelle eine alte Grabstätte. "Das führte immer wieder zu Konflikten", erzählt Gerti Seiser, "Denn wir haben an diesen Stellen rein gar nichts gesehen, was für uns als Grab erkennbar gewesen wäre! Und als wir dann einmal einen Reifenplatzer hatten und mit einem Sandsturm zu kämpfen hatten, führten unsere Begleiter diese Pannen darauf zurück, dass wir einmal an einer Grabstätte genächtigt und so die Totengeister geweckt hätten!"

Claude Levi Strauss unterscheidet im wesentlichen zwei extreme Haltungen der Gesellschaften gegenüber den Toten. Vereinfacht ausgedrückt sind die Toten nach der einen Auffassung wohlmeinende und beschützende Mächte, andererseits können sie aber auch zu bösen Geistern werden, die Unheil über die Lebenden bringen.

In Japan beispielsweise erklären sich die Totenrituale aus dem Respekt und der Furcht vor den Toten. "Wenn in der Zeit unmittelbar nach dem Tod irgendetwas nicht klappt und die Seele noch nicht im Jenseits angekommen ist, dann kann der Tote keine Ruhe finden und stiftet Unruhe. Er wird unberechenbar und kann zu einem schrecklichen Dämon werden!", sagt der Japanologe Bernd Scheid.

Der Tote wird also zunächst in weiße Kleider gehüllt zu Hause aufgebahrt. Die Familienmitglieder müssen die ganze Nacht aufbleiben und Sutren lesen, danach wird die Leiche verbrannt. Die Asche kommt in eine Urne, die 49 Tage im buddhistischen Hausaltar aufgestellt wird. Bernd Scheid bezeichnet diese Tage als kritische Zeit. "In diesen 49 Tagen macht die Seele ihre Reise ins Totenreich. Die Hinterbliebenen müssen durch ihre Gebete und Gedanken dazu beitragen, dass sie gut im Jenseits ankommt". Erst dann wird die Urne beigesetzt. Jeder Verstorbene erhält nach seinem Tod einen posthumen buddhistischen Namen, der auf einem hölzernen Plättchen eingraviert und im Hausaltar aufgestellt wird. Selbst in modernen japanischen Haushalten werden zu Ehren des Toten täglich kleine Opferspeisen dargebracht und Räucherstäbchen angezündet.

Auch die meisten Kulturen Afrikas trachten danach, dass ihre Verstorbenen gut in der anderen Welt ankommen und so in das Reich der Ahnen eintreten können. Zwischen dem Tod und der Welt der Ahnen bestehe ein Terrain, das überbrückt werden müsse, erzählt Afrikaexperte Manfred Kremser. Wieder sind es die Überlebenden, die dem Verstorbenen helfen müssen, dieses Zwischenreich zu überqueren. Oft wird dieses Reich als Wasser, als Fluss gedacht. Würde die Seele des Toten im Zwischenreich herumirren, so könnte sie sich gefahrvoll zu Wort melden.

In den meisten Ländern Afrikas gibt es mehrere Begräbnisse - wichtig ist das zweite, das rituelle Begräbnis. Dabei werden dem Verstorbenen Speisen und Getränke geopfert und die Lebenden versuchen, mit ihm in Kontakt zu treten, ihn zu fragen, ob er gut im Jenseits angekommen ist.

Für die Kontaktaufnahme treten die Lebenden mit Hilfe verschiedener musikalischer Stimuli oder besondere Anrufungsgesänge aus ihrem Wachbewusstsein heraus. "Wenn dann die Kommunikation gelingt, wird das oft wie ein Blitz erlebt," erklärt Manfred Kremser.

In vielen afrikanischen Kulturen besteht die Vorstellung vom Weiterleben nach dem Tod, doch anders als im Christentum sind Tod und Weiterleben zyklisch gedacht. Auf den Eintritt ins Leben folgt die Rückkehr ins Ahnenreich, in dem man jedoch nicht ewig bleibt, sondern wieder auf die Erde zurückkehrt - eine Kette, die sich endlos fortsetzt. Auch im konfuzianischen Asien herrscht die Überzeugung, dass diesseitige und jenseitige Wesen keineswegs strikt voneinander getrennt sind, sondern dass vielmehr fließende Übergänge bestehen.

Wie stark die Jenseitsvorstellungen einer Gesellschaft den Umgang mit den Toten prägen, hat Kremser etwa bei Totenritualen in der Karibik beobachtet: "Es war ein orgiastisches Fest, das uns zunächst schockierte, lag doch der Leichnam daneben. Doch die Leute erklärten uns: wir feiern, weil es der Tote geschafft hat. Er geht jetzt hinüber in diese andere, viel schönere Welt!"

Hörfunktip: Eine Sendung zu diesem Thema können Sie am 2. November auf Ö1 um 19 Uhr in den "Dimensionen" hören.

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