Weisheitsquellen und Weisheitskiller

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Das Internet bietet eine Fülle an Informationen und Möglichkeiten, gemeinsam nach Lösungen für Lebensprobleme zu suchen. Ob wir dort auch mehr Einsicht gewinnen, ist allerdings fraglich.

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Das Internet bietet eine Fülle an Informationen und Möglichkeiten, gemeinsam nach Lösungen für Lebensprobleme zu suchen. Ob wir dort auch mehr Einsicht gewinnen, ist allerdings fraglich.

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Dank Wikipedia, YouTube, Facebook und vielen anderen Plattformen, Netzwerken und Datenbanken hat heutzutage jede Internetnutzerin und jeder Internetnutzer Zugang zu einer unendlichen Fülle an Informationen und Wissen. Rätselt man über ein physikalisches Phänomen, sucht ein Kochrezept oder möchte eine Pflanze identifizieren - irgendwer im Netz(werk) wird es wissen oder jemanden kennen, der es weiß. James Surowiecki, Redakteur des Magazins The New Yorker, hat dieses Phänomen vor vielen Jahren untersucht und ein Buch dazu veröffentlicht: "Die Weisheit der Vielen. Warum Gruppen klüger sind als Einzelne"(2004). Surowiecki beschreibt darin an vielen Beispielen, dass die Ansammlung von Informationen in Gruppen zu Entscheidungen führt, die häufig besser sind als die Lösungen Einzelner. Aber werden wir in der Masse wirklich weiser? Führt mehr Wissen automatisch zu mehr Weisheit?

Judith Glück, Universitätsprofessorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Klagenfurt, beschäftigt sich seit 1999 mit der Frage, was Weisheit ist, wie man sie messen kann und wie man sie erreicht. Sie sagt dazu: "Es gibt viel Wissen heutzutage, aber die Frage ist, ob man es auch nützen kann." Denn wir haben auch etwas Anderes mehr und mehr, das laut Erfahrung der Forscherin ein Weisheitskiller ist: Zeitdruck.

Die MORE-Prinzipien

Was Weisheit ist, glaubt jeder im Grunde zu wissen. Schon Kinder haben eine Vorstellung davon, und sei es durch fiktive Figuren wie Meister Yoda oder den Zauberer Merlin. 50 Prozent der Sechsjährigen und mehr als 90 Prozent der Zehnjährigen kennen den Begriff Weisheit und können ihn definieren, so Judith Glück. Ein weiser Mensch sei klug und freundlich, könne anderen einen Rat geben und gut mit Problemen umgehen. Möchte man Weisheit erforschen und messbare Kriterien festlegen, ist das jedoch äußerst schwierig. Für die psychologische Weisheitsforschung, eine relativ junge Disziplin, haben Wissenschaftlerinnen Fragebogen entwickelt und zahlreiche Interviews geführt. Sie haben Probanden fiktive Probleme vorgelegt und sie nach Lösungen gefragt. Sie haben Menschen verschiedenen Alters untersucht und in verschiedenen beruflichen Kontexten, und sie haben Menschen, die von anderen als weise bezeichnet wurden, von ihren Lebenserfahrungen und weisen Entscheidungen erzählen lassen.

Immer wieder zeigte sich, dass sich Weisheit schwer fassen lässt: "Dieselbe Person hat einmal sehr weise reagiert und ein anderes Mal nicht. Man kann offenbar von Situation zu Situation unterschiedlich weise sein", erzählt Judith Glück. Wir alle kennen das: Wenn man wütend ist oder gestresst, ist eine weise Entscheidung schwieriger und man sagt vielleicht etwas, das man sich in einem anderen emotionalen Zustand verkniffen hätte. Denn zur Weisheit gehört eine gehörige Portion Gelassenheit. Es ist übrigens leichter, in Bezug auf andere weise zu sein, als bei sich selbst.

Trotz der Schwierigkeit, Weisheit wissenschaftlich fundiert zu messen, haben Judith Glück und ihr Forscherteam fünf Prinzipien gelingenden Lebens herauskristallisiert: Offenheit für neue Erfahrungen und die Bereitschaft, Vorstellungen zu revidieren; eigene Gefühle wahrnehmen und ernst nehmen, aber auch regulieren; Mitgefühl und Einfühlungsvermögen; kritisches Reflektieren und sich selbst Hinterfragen; sowie die Überwindung der Illusion, alles kontrollieren zu können. Im Englischen werden diese fünf Prinzipien mit dem Kürzel MORE zusammengefasst (mastery, openness, reflectivity, emotions, empathy).

Diese Prinzipien machen auch klar, dass der Zugang zu Wissen alleine noch nicht Weisheit zur Folge hat. Denn für weise Entscheidungen muss man ein großes Erfahrungswissen haben. Deshalb sind weise Menschen eher älter. Allerdings haben die Forscherinnen und Forscher auch 30-Jährige kennengelernt, die weise Entscheidungen treffen, und man ist sich sicherlich einig, dass nicht alle älteren Menschen weise sind. Ein zweiter wichtiger Aspekt ist nämlich eine bestimmte Haltung, im Englischen nennt man das "mindset". Ein weiser Mensch, der nach einem Rat gefragt wird, wird nicht sofort mit einer Lösung herausplatzen und dem Gegenüber erklären, was es zu tun hat. Er oder sie wird vielmehr nachfragen, abwägen, verschiedene Seiten in Betracht ziehen und erst dann vorsichtig eine Empfehlung geben -oder gar dem Fragenden dabei helfen, selbst auf eine Lösung zu kommen.

Studien mit Managern

In Studien mit Managern hat Judith Glück gesehen, dass der Gescheiteste nicht immer der Weiseste ist: "Wenn man in einer hohen Position ist, keinen Widerspruch erlebt und sich dadurch zu sicher ist, dass man recht hat, kann das auch ein Weisheitskiller sein." Hier kommt wieder das Internet ins Spiel: Wer im eigenen Umfeld niemanden hat, mit dem er oder sie trainieren kann, verschiedene Seiten eines Problems zu betrachten, kann das zum Beispiel über die Online-Plattform reddit.com tun, empfiehlt Judith Glück. Dort gibt es Gruppen wie "change my view" oder "convince me that", wo man zu verschiedenen Fragen frei argumentieren und daraus etwas lernen kann. Denn wichtig für gute Entscheidungen, schreibt James Surowiecki, ist, wenn Gruppen heterogen sind - und diese Verschiedenartigkeit auch wertgeschätzt wird.

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