"Weltwissen der Siebenjährigen"

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Kinder sind der Schlüssel zur Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft, sagt die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich in ihrem neuen Buch über den Bildungs- und Erlebnishorizont der Siebenjährigen.

Menschen sind Wesen, die nicht nur geboren werden, sondern noch zur Welt kommen müssen." So lapidar beginnt Donata Elschenbroich ihre Einführung in das "Weltwissen der Siebenjährigen". Damit steckt sie vorweg ab, dass sie keinen weiteren Ratgeber zur Förderung von Kleinkindern verfasst hat, dass sie die Kinder nicht isoliert von Gesellschaft, Mitwelt und Bezugspersonen betrachtet. Außerdem trifft sie mit ihren Aussagen direkt in die Herzen, oder sind es die Seelen?

Donata Elschenbroich, unter anderem Expertin für Bildung in frühen Jahren, gliedert ihre Wanderung entlang des Bildungs- und mehr noch des Erlebnishorizonts der Kinder in fünf Etappen. Sie verführt mit liebevoll geschriebenen, massiven Wahrheiten im Kapitel I "Weltbildung" dazu, sich ruhig der Lektüre zu widmen und jede Zweckorientierung einzuschläfern. Es ist wie das Blättern in den Fotoalben. Erinnerungen werden geweckt, alte Zweifel kratzen noch im Hintergrund: hat oder hatte das Kind, was es braucht? Ließ man Fähigkeiten brach liegen oder überforderte man die Kleinen? "Im Kind die Kraft zu bestärken, sein eigener Lehrer zu sein, darum geht es", fasst die Autorin die Bemühungen der Erwachsenen zusammen. "Den Kopf heben, Aufhorchen - das sind weltbildende Gesten. Das Kind hebt den Kopf und sieht die Welt aufgehen. Das Kind bildet dabei einen Horizont, die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, dem Wirklichen und dem Möglichen. Terrain gewinnen, den Horizont voranschieben, unterwegs zu einem Zuwachs an Welt, unablässig: Das heißt lernen."

Erfahrung vor Ort

Elschenbroich hat in drei Jahren (1996 bis 1999) über 150 Gespräche mit Menschen aller Schichten - Eltern, Verkäufer, Arbeitslose, einem Bischof, Naturwissenschaftler Innen, zwei Siebenjährigen - geführt und nach ihren Ergänzungen der Wunschliste des "Weltwissens der Siebenjährigen" gefragt. Die Orte der Recherche waren außer Seminarräumen und Redaktionen auch Küchen, Kinderzimmer, Parkbänke, Ateliers und Bahnabteile. Man verzichtete bewusst auf standardisierte Fragebögen, so floss die je eigene Sichtweise auf das Thema in die Gespräche ein.

Ausgangspunkt (1996) war eine Liste mit Vorschlägen: "Ein siebenjähriges Kind sollte vier Ämter im Haushalt ausführen können (etwa: Treppe kehren, Bett beziehen, Wäsche aufhängen, Handtuch bügeln). Es sollte ein Geschenk verpacken können. Drei Rätsel, drei Witze erzählen können. Einen Zungenbrecher aufsagen können. Eine Sonnenuhr gesehen haben. Ein chinesisches Zeichen geschrieben haben."

Dinge "frisch" sehen

Nicht nur Eltern fragen danach, auch Kulturen wollen wissen: Was sollte ein Kind in seinen ersten sieben Lebensjahren erfahren haben, können und wissen? Womit sollte es zumindest in Berührung gekommen sein? Die Autorin definiert Kinder als "Schlüssel zum Verständnis eines Landes, nicht nur der Sitten einer Gesellschaft, sondern auch ihrer kollektiven Intelligenz, ihrer Zukunftsfähigkeit." Davon seien auch die kulturellen Phantasien der ersten Lebensjahre der Kinder abgeleitet: Wieviel Zeit, Mütter-Zeit, Beziehungs-Zeit wird für Kinder aufgewendet? Was ist diese Zeit einer Gesellschaft Wert, wird sie geachtet, wird sie vergütet? Auch an diesem Punkt bleibt Donata Elschenbroich streng: Erzieher seien keine verwöhnte Berufsgruppe, was Status und Einkommen angehe. In Kapitel IV wirft sie einen vergleichenden wie kritischen Blick auf die Betreuungsarrangements für Kinder in USA, England, Japan und Ungarn: "Amerikanische Kindergartenhelferinnen verdienen weniger als Amerikanische Parkwächter, weniger als die Hälfte eines Gefängniswärters und etwa ein Drittel einer amerikanischen Grundschullehrerin."

Der Horizont der Siebenjährigen wurde in den Gesprächen umwandert; Erwachsene, die sich durch ihre innovationsbeschleunigte Umwelt hangeln, finden sich in ihren Kindern wieder: "Kinder zeigen uns die Dinge, als seien sie gerade erst entstanden." Die Kinder zeigen den Erwachsenen die Dinge "frisch": "Wie geheimnislos ist uns erwachsenen Altlesern das Lesenkönnen geworden, manchmal zu einem geradezu lästigen Reflex. Dagegen der Triumph des ersten Lesens: aus Zeichen, zu einem Text zusammengesetzt, steigt die Welt auf."

Neben den aufschlussreichen Gesprächsprotokollen, etwa mit einem Pfarrer ("Kinder haben unsere Gemeinde verändert"), der 47-jährigen Analphabetin Fatma Orman ("Selma sollte sich ein Spiel ausdenken müssen") oder dem siebenjährigen Fredi ("Ich bin der einzige Siebenjährige in unserer Familie") beeindruckt Kapitel III mit Elschenbroichs "Bildungsminiaturen". Hier etwa regt sie die Gestaltung eines "Ich-als-Kind-Buches" an: "Zeit ist nicht nur Zukunft. Gelebte Zeit, das Gewesene ist Wert, erinnert zu werden. Ich, meine unverwechselbaren Erlebnisse, sind es wert, erinnert zu werden. Sie brauchen einen anerkannten Ort in meinem Weltwissen, Raum in diesem Gebäude." Übrigens: an der Spitze des Panoramas des Weltwissens "Was Siebenjährige können/erfahren haben sollten" steht: "die eigene Anwesenheit als positiven Beitrag erlebt haben."

Dieses Buch macht Mut, weckt in Eltern, Erziehern und Pädagogen betäubte Energien, belebt das Kind in ihnen, stichelt Wutbeben über bildungspolitische Zustände an und lässt sie aufbrechen; auch für sie mag Donatas Elschenbroichs Forderung gelten: "Jedes Kind sollte sich als einen unwillkürlichen Weltverbesserer erlebt haben."

Blindenschrift fühlen

Mit ihrer Anregung "Jedes Kind sollte in seinen ersten sieben Jahren ein chinesisches Zeichen geschrieben haben" hat Donata Elschenbroich Widerstand erzeugt und erhalten. Was soll denn das, das kann kein Erwachsener, und die drei Chinesen mit ihrem Kontrabass, die sind doch auch weit weg. Unter "Schrift und Zeichen" verankert die Autorin die Erkenntnis, dass nicht nur Orte, sondern auch Erkenntnisse den Kindern wie den Erwachsenen Heimat sein können. Daraus zieht sie folgende Anregungen: "Jedes Kind sollte in den ersten sieben Jahren eine schriftliche Botschaft, einen Brief, geschrieben oder gelesen haben ... Es sollte eine E-Mail empfangen und gesendet haben ... Es sollte seinen Namen in Blindenschrift gefühlt, gelesen haben." Donata Elschenbroich erklärt dazu: "Die Erkenntnis, Teil der Welt zu sein, setzt wie der Umgang mit den Zeichen viel früher als mit Schuleintritt ein: unbelastete und spontane Annäherungen an die Zeichen passieren etwa, wenn das Kind mit einem Stock Zeichen in den Sand malt oder in der Luft zu schreiben beginnt."

Am Beispiel der beiden Siebenjährigen Fredi und Sabrina verdeutlicht sie in einem weiteren Kapitel, wie oft das Wissen der Kinder unterschätzt oder nicht gewürdigt wird, schon gar nicht vom Schulsystem.Ob sie selbst eine "Lieblingskomponente" des Weltwissens der Siebenjährigen hat? "Ich mag es besonders, bei Lesungen und Vorträgen eine Kompetenz des Weltwissens herauszugreifen und es gemeinsam mit den Anwesenden zu entfalten. Aber ich halte es für besonders grundlegend, dass die Siebenjährigen die eigene Anwesenheit als positiven Beitrag erlebt haben. Fehlt dieses Erleben, liegen viele Lernimpulse lahm."

Buchtipp: Zur Autorin

Donata Elschenbroich ist Expertin für Bildung in frühen Lebensjahren und arbeitet am Deutschen Jugendinstitut auf dem Gebiet der international vergleichenden Kindheitsforschung. In ihren Publikationen hat sie sich unter anderem mit der Kulturgeschichte der Kindheit und der Kindheit und Erziehung in Japan beschäftigt.

Zum Thema "Weltwissen der Siebenjährigen" produzierte sie auch mehrere Filme.

Weltwissen der Siebenjährigen.

Von Donata Elschenbroich

Geb., 260 Seiten, A. Kunstmann Vlg.,

2001,e 17,40/öS 239,40

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