Wenn der Werwolf winkt

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Die Wiederkehr wilder Wölfe wirft neues Licht auf eine Vielzahl älterer Rituale und Mythen -und auf die Faszination tierischer Verwandlungen. Über spaßige "Viecherei" und dämonische Besessenheit.

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Die Wiederkehr wilder Wölfe wirft neues Licht auf eine Vielzahl älterer Rituale und Mythen -und auf die Faszination tierischer Verwandlungen. Über spaßige "Viecherei" und dämonische Besessenheit.

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Längst ist es keine Neuigkeit mehr: Seit Beginn des dritten Jahrtausends sind die Wölfe -mehr als hundert Jahre nach ihrer Ausrottung -zurückgekehrt nach Zentral europa, etwa nach Deutschland und Österreich. Regelmäßig werden Sichtungen von Wölfen, ein "Wolfsmonitoring", im Internet publiziert; und in Österreich sind es inzwischen zumindest drei Rudel, die für eine Zunahme der Wolfsbestände sorgen. Solche Nachrichten stimulieren Faszination und Schrecken zugleich. Und mit den Tieren, denen wir neuerdings nicht mehr bloß in zoologischen Gärten und Wolfsgehegen begegnen können, gewinnt auch eine Vielzahl älterer Rituale und Mythen, Bilder und Erzählungen, Praktiken der Abwehr und der Identifikation ein schärferes Profil.

In seinen Untersuchungen zu "Masse und Macht" hat Elias Canetti eine Anthropologie der Verwandlung entworfen. Dabei ging er aus von den furchterregenden Erscheinungsformen der Verwandlung: von Verwandlungen in Beute und Jäger, von Verdoppelungen und Selbstverzehrungsriten, von den hysterischen, manischen und melancholischen Verwandlungen, von Totemismus und "Delirium tremens", von Maske, Herrschaft und Sklaverei. Natürlich erwähnt er auch archaische Kriegerbünde, die in Bären-oder Wolfsfellen mit den idealisierten Raubtieren verschmelzen wollten; noch vor wenigen Jahrtausenden waren es ja Göttinnen wie die anatolische Kybele, die ägyptische Sachmet oder die indische Kali, die in Raubtiergestalt verehrt wurden. Verblüffend ist die Vielgestaltigkeit der Verwandlungen, die in verschiedenen Kulturen und Zeiten praktiziert oder imaginiert wurden.

Ovids Metamorphosen

Besonders populär sind die Wolfsmetamorphosen geblieben, mit deren Geschichte Ovids "Buch der Verwandlungen" beginnt. Einst habe Jupiter in Menschengestalt das Mainalosgebirge und die Fichtenwälder des Lykaios durchquert, um bei Anbruch der Nacht das Haus des arkadischen Tyrannen Lykaon zu betreten. Lykaon aber beschloss, den göttlichen Gast zu prüfen: Er wollte ihn während der Nacht im tiefen Schlaf ermorden. Zuvor aber servierte er ihm ein Gericht mit geschnetzeltem Fleisch, dem er Stücke aus Menschenfleisch - einer flugs getöteten Geisel - beigemischt hatte. Sobald er die Mahlzeit auftragen ließ, stürzte Jupiter "mit rächendem Blitzstrahl das Dach auf die ihres Herrn würdigen Hausgötter", wie Ovid formuliert. Und der Tyrann wird verwandelt: "Seine Kleidung wird zu zottigem Fell, seine Arme zu Läufen, er wird ein Wolf, doch behält er noch Spuren seiner vorigen Gestalt: Noch ebenso grau ist sein Haar, ebenso gräßlich die Miene, ebenso funkeln die Augen, ebenso wild ist seine Erscheinung."

Lykaon ist der erste Werwolf, worauf schon sein Name, aber auch der Name der nahen Berge hinzuweisen scheinen: "lykos" heißt im Griechischen der Wolf. Walter Burkert hat in seiner Studie zum "Homo Necans"(1972) die antiken Quellen zusammengefasst, die darauf hinweisen, dass die Erzählung Ovids auf eine rituelle Praxis, womöglich ein Menschenopfer bezogen werden müsse. Platon habe davon erzählt, Theophrast, Plinius, Apollodor oder Pausanias: Beim Opferfest des Zeus Lykaios werde gesottenes Menschenfleisch verzehrt; der Genuss bewirke die Verwandlung in einen Wolf. Wenn dieser Wolf sich des Menschenfleischs enthalte, werde er nach einer achtoder zehnjährigen Frist wieder in einen Menschen zurückverwandelt. Burkert resümiert, es bestehe kein Zweifel, "dass es Werwölfe gegeben hat so gut wie Leoparden-und Tigermenschen, als geheimen Männerbund, als secret society, schillernd zwischen dämonischer Besessenheit und spaßiger 'Viecherei', wie es Maskenbünden eigen ist. In Europa ist zumindest ein Fall eines 'Werwolfs' aus Livland im 16. Jahrhundert aktenkundig bezeugt; dort bestand das werwölfische Abenteuer hauptsächlich darin, zur Nachtzeit in fremde Keller einzubrechen und das dort gelagerte Bier zu trinken." Eine aktuellere Liste frühneuzeitlicher Werwolf-Prozesse zählt dagegen immerhin rund zweihundert namentlich dokumentierte Verfahren zwischen 1407 und 1720.

"Kreaturen" aus zwei Welten

Der italienische Philosoph Giorgio Agamben hat darauf hingewiesen, dass der Wolfsmensch im altgermanischen Recht -wie der römische "homo sacer" - als der Friedlose, Vogelfreie, Verbannte fungierte, der straflos umgebracht werden durfte. Dass er als Wolfsmensch und nicht einfach als Wolf galt, sei dabei entscheidend gewesen: Denn das Leben des Verbannten sei "kein Stück wilder Natur ohne jede Beziehung zum Recht und zum Staat" gewesen; vielmehr bildete es "die Schwelle der Ununterschiedenheit und des Übergangs zwischen Tier und Mensch (...). Es ist das Leben des 'loup garou', des Werwolfs, der weder Mensch noch Bestie ist, einer Kreatur, die paradoxerweise in beiden Welten wohnt, ohne der einen oder der anderen anzugehören."

Eine solche "Kreatur" aus zwei Welten, zwischen den Zeiten und Kulturen, betrat im Januar 1910 -begleitet von einem Leibarzt -die Praxis Sigmund Freuds in Wien. Sergei Pankejeff aus Odessa war eben 23 Jahre alt geworden; sein Vater war manischdepressiv und unter ungeklärten Umständen gestorben, die Schwester Anna hatte sich 1905 umgebracht. Pankejeff litt unter Zwängen und Depressionen; und er träumte von Wölfen: "Ich weiß, es war Winter, als ich träumte, und Nachtzeit. Plötzlich geht das Fenster von selbst auf, und ich sehe mit großem Schrecken, daß auf dem großen Nußbaum vor dem Fenster ein paar weiße Wölfe sitzen. Es waren sechs oder sieben Stück. Die Wölfe waren ganz weiß und sahen eher aus wie Füchse oder Schäferhunde, denn sie hatten große Schwänze wie Füchse und ihre Ohren waren aufgestellt wie bei den Hunden, wenn sie auf etwas passen. Unter großer Angst, offenbar, von den Wölfen aufgefressen zu werden, schrie ich auf und erwachte."

Das Traumbild mit den Wölfen hat Pankejeff danach wiederholt gezeichnet; im Laufe seines langen Lebens (1886-1979) absolvierte er mehrere Analysen. 1971 veröffentlichte die Psychoanalytikerin Muriel Gardiner eine Studie zum "Wolf-Man", in der sie die Krankengeschichte Freuds mit eigenen Beobachtungen und den Aufzeichnungen Pankejeffs abglich. Diese beginnen mit der seltsamen Feststellung: "Ich bin nach dem damals in Rußland geltenden Julianischen Kalender am Heiligen Abend 1886 geboren, nach dem Gregorianischen Kalender, der im ganzen übrigen Europa galt, also am 6. Januar 1887."

Wölfe für Kinder und Faschisten

Die Bemerkung bezieht sich auf die Differenz zwischen Kaiser und Papst, dem christlichen Geburtsfest und dem Fest der Epiphanie, dem Weihnachts- und Dreikönigstag, aber auch auf die Differenz zwischen der Analyse und ihrer Niederschrift: 1910 gehörte Pankejeff noch zur julianisch-orthodoxen Welt, 1918 - nach Lenins Kalenderreform -schon zum gregorianischen Kosmos. Zu Recht hat der Historiker Carlo Ginzburg darauf hingewiesen, dass zwischen dem 24. Dezember und 6. Januar -während der sogenannten Raunächte -in manchen Gegenden Europas sogar das Wort "Wolf" verboten war, um nicht die Aufmerksamkeit gefährlicher Geisterwölfe zu erwecken. Die Angst vor Werwölfen in den Raunächten war weit verbreitet.

Kurzum, mit den Wölfen sind solche Erinnerungen und Ängste zurückgekehrt, als Mythen, Romane, Bilder und Filme. Zu ihnen gehören nicht nur die Märchen der Brüder Grimm, die Zeichentrickfilme vom Wolf und den drei Schweinchen oder die Dschungelbücher Rudyard Kiplings, sondern auch die nachhaltige Identifikation der Faschisten mit den Wölfen, die noch Carlos Saura in seinem Spielfilm über "Anna und die Wölfe"(1973) in Szene gesetzt hat. In all diesen kulturellen Artefakten manifestiert sich nicht nur der Gegensatz zwischen Heimat und Fremde, Einschluss und Ausschluss, Integration und Bann, sondern auch die Ambivalenz des Unheimlichen. Ein Jahr nach dem Bericht über die Analyse seines "Wolfsmanns" verfasste Freud, ziemlich genau vor hundert Jahren, eine Abhandlung über das Unheimliche, in der es heißt: "Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich."

Der Autor leitet das Internationale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) in Wien

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