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Die Mehrzahl der Sexualdelikte bleibt ungestraft. Wie die Dunkelziffer verringern?

Die Worte kamen ohne Emotionen: "Ich habe immer die Tür halb offen gelassen, um zu hören, ob meine Frau über eine bestimmte knarrende Stufe der Stiege nach unten kommt, ich habe den Fernseher halblaut geschalten, damit sie mich nicht hört." - Damit sie sein Stöhnen nicht hörte, wenn er wieder einmal die eigene Tochter missbrauchte, nachdem sich die Ehefrau, vom betrunkenen Gatten ekelnd, in ihr Zimmer zurückgezogen hatte.

Nüchtern beschrieb Herr K. seine Tat des sexuellen Missbrauchs, emotional wurde er erst, als er die polizeiliche Vernehmung, den Prozess und die Haft schilderte, als wäre er das Opfer gewesen. Ein typisches Verhalten, wie Jonni Brem, Psychologe und Psychotherapeut bei der Männerberatung Wien anhand dieses Beispiels erklärt. Bis sich der Sexualtäter tatsächlich als Täter sieht, eine Änderung seines Verhaltens will und dies auch zeigt, bedürfe es aber einer aufwendigen Therapie, so der Fachmann, der seit 1986 mit Sexualstraftätern arbeitet.

Therapie - auch ein Reizwort? Gerade bei den stark emotionalisierten Themen Kindesmissbrauch und sexuellen Übergriffen im Allgemeinen gehen die Wogen hoch: Nicht wenige rufen lieber nach härteren Strafen, einer Sexualstraftäterdatei, die nun kommen wird, oder gar nach chemischer Kastration (siehe unten).

Nicht Täter werden

Die Aufregung und Verunsicherung hat ihre Begründung: Jedes Jahr werden nach Angaben des Innenministeriums ca. 80 Kinder unter sechs Jahren Opfer einer Sexualstraftat, über 600, die unter 14 Jahre alt sind. Dass diese registrierten Fälle nur der Gipfel des Eisbergs sind, wird von niemanden bezweifelt. Was aber tun, um die Dunkelziffer zu verringern?

Der eine Weg ist mehr Sensibilisierung, die in den letzten Jahren vorangetrieben wurde und erste Erfolge zeigt: Exekutive, Pädagogen, Eltern, die Zivilgesellschaft - sie alle wurden verstärkt zum Hinschauen und Handeln geschult; die Anzeigen steigen. Die andere Seite der Medaille ist gestiegenes Misstrauen, was auch unerwünschte Nebenwirkungen zeigt, wie das Extrembeispiel eines alleinerziehenden Vaters zweier Töchter verdeutlicht, der plötzlich das Jugendamt vor der Tür stehen hatte, weil Nachbarn Missbrauch befürchteten. Der Verdacht konnte nicht erhärtet werden, die Gerüchte lebten aber weiter. Hinschauen, vorsichtige Reaktion, aber keine Hysterie, raten Experten.

"Jedes vierte Mädchen, jeder achte Bub wird nach Schätzungen sexuell belästigt. Das ist eben die Realität", meint Elisabeth Jupiter, Psychotherapeutin und Leiterin des Kinderschutzzentrums "Möwe" in Wien nüchtern. "Die Gesellschaft ist derzeit noch mit dem Problem überfordert. Das große Dunkelfeld muss erst ausgeleuchtet werden", sagt Fritz Lackinger, Leiter des Forensisch Therapeutischen Zentrums in Wien. Wie kann man aber potenzielle Täter erreichen, bevor sie zuschlagen? Eine äußerst brisante Frage. Nun gibt es erste Antworten.

Vorreiter auf diesem Gebiet ist Berlin: Mit der Gewissensfrage "Lieben Sie Kinder mehr, als Ihnen lieb ist?" ging das Institut für Sexualwissenschaften und Sexualmedizin an der Charité in Berlin an die Öffentlichkeit, um Männer/Frauen anzusprechen, die pädophile Phantasien haben, aber noch keine Tat begangen haben, die Angst haben, bald eine Tat zu begehen, und jene, die bereits übergriffig wurden, aber noch nicht angezeigt worden sind. Über 500 Männer (und zwei Frauen) wandten sich in den ersten zwei Jahren nach Start des Projekts "Kein Täter werden" an die therapeutische Einrichtung. 90 pädophile Männer konnten in ein Therapieprogramm aufgenommen werden, 20 haben dieses bereits abgeschlossen.

Ein Projekt, das auch Justizministerin Maria Berger zusagt. Berger könne sich dieses Projekt auch in Österreich vorstellen, es sollte nun konkretisiert werden, hieß es aus dem Ministerium.

Doch wenn es tatsächlich umgesetzt würde, wird nicht zuletzt die Frage der finanziellen Mittel und die Anzahl qualifizierter Therapeuten entscheidend sein, wie Experten meinen. "In Bezug auf die Nachbetreuung von bereits verurteilten Sexualstraftätern sind wir in Österreich gut organisiert. Da sind wir auch Vorreiter. Aber das erfasst nur einen kleinen Teil der Täter und auch diese Angebote werden eher eingeengt als ausgeweitet", sagt Lackinger vom Forensisch Therapeutischen Zentrum in Wien, das Straftäter mit psychischen Erkrankungen therapiert: "Für potenzielle Täter, etwa Menschen mit pädophilen Persönlichkeitsstörungen, zahlt zwar die Krankenkasse eine gewisse Anzahl von Sitzungen, aber nicht genug. Die Behandlung Pädophiler ist sehr langwierig und erfordert eine besondere Qualifikation und Supervision des Therapeuten." Therapieangebote müssten laut Lackinger massiv ausgebaut werden, innerhalb des Strafvollzugs und als Präventivmaßnahme. Noch sind Therapieangebote, etwa in Männerberatungsstellen in Landeshauptstädten, beschränkt vorhanden.

Vorbild für Österreich?

"Dass Therapie wirksam ist, wurde in zahlreichen internationalen Studien belegt, wenn auch jede Statistik angreifbar ist", betont Fritz Lackinger. Das Forensisch Therapeutische Zentrum Wien hat 2006 seine Arbeit mit Sexualstraftätern evaluiert. Das Ergebnis war eindeutig: Von den Sexualstraftätern, die Therapie erhielten, wurden innerhalb der ersten sieben Jahre 11,7 Prozent wieder einschlägig rückfällig (eine international übliche Zahl). In der Gruppe, die keine Therapie erhalten hat, wurden 21,3 Prozent erneut sexuell übergriffig. Die Rückfallsquote wird bei Sexualdelikten generell als relativ gering (ca. 20 bis 25 Prozent) eingeschätzt, verglichen etwa mit organisierter Raubkriminalität. Dennoch, die Folgen der Tat sind verheerender, wenn man an die lebenslangen seelischen Wunden der Opfer denkt.

In Österreich stiegen zuletzt die Anzeigen von Sexualdelikten um 9,6 Prozent auf 4037 Fälle an. Besonders stark war der Anstieg bei Konsum und Verbreitung von pornografischen Darstellungen Minderjähriger. Bei den Verurteilungen gab es jedoch 2006 einen Rückgang um 16 Prozent, besonders bei juristisch gesehen "schwerem sexuellen Missbrauch".

www.kein-taeter-werden.de

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