Wenn du es eilig hast, dann gehe langsam

Werbung
Werbung
Werbung

Effizienter muss alles werden - und schneller. Denn Zeit ist Geld. Viele kommen mit dieser Beschleunigung nicht zurecht. Stresserkrankungen nehmen zu. Wie man mit dieser Herausforderung umgehen kann, ist Thema das folgenden Gesprächs.

die furche: Welchen Hauptfehler machen Menschen im Umgang mit der Ressource Zeit?

lothar j. seiwert: Das Hauptproblem liegt darin, dass sich viele von den dringlichen Dingen des Lebens jagen lassen, statt sich auf die wesentlichen Dinge zu konzentrieren. Wir lassen uns von der Technik und den immer höheren Erwartungen unserer Umwelt, unserer Chefs oder unserer Mitarbeiter so sehr unter Druck setzen, dass wir uns dauernd gehetzt fühlen. Die Amerikaner haben dafür schon ein eigenes Krankheitsbild gefunden. Sie nennen es "Hurry-Sickness" - Hetzkrankheit. Doch vieles Dringende ist nicht wichtig. Leider verschiebt sich in unserer Hetz- oder Speed-Gesellschaft die Bedeutung immer mehr von den wichtigen zu den dringenden Dingen.

die furche: Was gehört für Sie zu den wichtigen Dingen?

seiwert: Dazu gehört vor allem, Zeit für sich selbst zu haben, für Entspannung, für Fitness, für die Familie, für die Partnerschaft. Es ist auch wichtig, sich Zeit für das Nachdenken über den Sinn des eigenen Lebens zu nehmen oder wenigstens einmal die Ruhe für das Lesen eines guten Buches zu haben.

die furche: Gibt es Berufe oder Gruppen von Menschen, die für Fehler im Umgang mit der Zeit besonders anfällig sind?

seiwert: Wenn man den Berichten Glauben schenken kann, sind Beschäftigte in der IT-Branche dafür möglicherweise stärker gefährdet. Aber ich bin da ein wenig skeptisch, denn meiner Erfahrung nach hält jede Berufsgruppe und jede Branche ihre Probleme für die gravierendsten auf der Welt. Ich selber finde, dass die Schwierigkeiten im Umgang mit der Zeit in allen Berufen grundsätzlich die gleichen sind. Es gibt nur eine Berufsgruppe, in der dauernde Hektik wirklich nicht zu vermeiden ist: In der Unfall-Abteilung eines Krankenhauses, wenn es um Leben und Tod geht. Überall sonst machen wir die Dinge viel dramatischer, als sie in Wirklichkeit sind, weil wir uns selber oft viel zu wichtig und viel zu ernst nehmen.

die furche: Was kann Zeitmanagement dazu beitragen, um dem Problem des Zeitmangels zu begegnen, mit dem viele Menschen konfrontiert sind?

seiwert: Zeitmanagement kann zunächst nichts dazu beitragen, denn die Zeit können wir nicht managen. Sie verrinnt von allein, ob wir das wollen oder nicht. Alles was wir tun können, ist, den Umgang mit der Zeit zu verbessern und unsere Einstellung zu verändern. Vor allem sollten wir ehrlicher sein. Es ist nämlich eine Lebenslüge zu behaupten, man habe für etwas keine Zeit. In Wirklichkeit meint man, keine Zeit zu haben, weil einem etwas anderes eben wichtiger ist. Deshalb gibt es aus meiner Sicht keine Zeitprobleme, sondern nur Prioritätenprobleme. Daher muss es auch nicht Zeitmanagement, sondern Prioritätenmanagement heißen.

die furche: Sie sprechen in Ihrem Buch "Wenn du es eilig hast, gehe langsam" von einem neuen Zeitmanagement. Was ist daran eigentlich neu?

seiwert: Beim traditionellen Zeitmanagement lag der Fokus darauf, dass wir unsere Arbeit richtig, also möglichst schnell und gut organisiert verrichten. Es ging also um Effizienz. Beim neuen Zeitmanagement hat sich der Schwerpunkt verlagert. Da geht es vor es vor allem darum, die richtigen Dinge zu tun. Das heißt, man muss sich nicht nur die Zeit nehmen, sondern die Prioritäten im Leben bewusst machen, um Zeit für die wirklich wichtigen Dinge finden. Deshalb ist Lebensmanagement eine treffendere Bezeichnung als Zeitmanagement. Und auch managen ist nicht der passende Ausdruck, denn das meint ja bloß bestimmte Tätigkeiten richtig zu tun. Es geht aber um etwas anderes, nämlich um "Life-Leadership", also darum, Zeit für die wirklich wichtigen Dinge zu finden.

die furche: Gibt es bei der Suche danach irgendwelche Anhaltspunkte?

seiwert: Allgemein kann man folgendes sagen: In jeder Gesellschaft, egal ob es sich um einen primitiven Indianerstamm handelt oder um unsere hochindustrialisierte Gesellschaft, müssen vom Individuum vier Lebensbereiche miteinander in Balance gebracht werden. Zum ersten Bereich gehören Körper, Gesundheit, Ernährung und Entspannung. Der zweite Bereich umfasst Arbeit, Leistung, Karriere, Geld. Den dritten bilden Kontakt, Beziehung, Partnerschaft, Familie, Freundschaft. Und der vierte Bereich umfasst etwas, womit sich der Österreich Viktor Frankl ausführlich beschäftigt hat, die Suche nach Sinn. Die Antwort darauf können beispielsweise Glaube, Kultur oder das Engagement für andere sein. Wird ein Bereich überbetont, dann ergeben sich zwangsläufig Probleme.

die furche: Was kommt in unserer Gesellschaft heute zu kurz?

seiwert: Wir konzentrieren uns viel zu sehr auf den Bereich Beruf und Arbeit, während die anderen Bereiche vernachlässigt werden. Das führt dazu, dass unser Leben außer Balance gerät. Das merken wir spätestens dann, wenn wir unter körperlichen Beschwerden leiden, in Beziehungsprobleme geraten oder wenn uns die Sinnkrise packt. "Burn-out" beispielsweise ist ja nicht nur ein physisches Phänomen, sondern auch ein psychisches Problem. Und Life-Leadership heißt eben, dafür zu sorgen, dass unser Leben in Balance kommt und auch bleibt.

die furche: Das leuchtet ein. Aber wie setzt man das in die Tat um?

seiwert: Wir müssen uns regelmäßig eine "Aus-Zeit" gönnen, um unsere Vision von einem künftigen Leben zu entwickeln, und zwar eine Vision, die alle vier Lebensbereiche umfasst. Haben wir eine solche Vision, so können wir daraus ersehen, was uns wirklich wichtig ist. Daraus können wir dann wiederum die Ziele ableiten, die wir Schritt für Schritt erreichen möchten. Dabei müssen wir jedoch beachten: Nicht nur wir, auch unsere Vorstellung von einem erfüllten Leben ändert sich im Laufe der Jahre. Deshalb müssen wir regelmäßig überprüfen, ob wir uns noch auf dem rechten Weg befinden. Dies ist auch wichtig, weil der Verlust der Lebensbalance ein schleichender Prozess ist. Oft nehmen wir diese Entwicklung zunächst gar nicht wahr, weil sie aus vielen kleinen Entscheidungen im Alltag resultiert.

die furche: Und wie merkt man, dass man die Balance verloren hat?

seiwert: Die einzige Möglichkeit ist, sich regelmäßig zu fragen: Wo zeigen sich in meinem Leben, in meinem Lebensumfeld Symptome dafür. Das können körperliche Beschwerden, Unzufriedenheit bei der Arbeit oder zunehmende "Sprachlosigkeit" in der Partnerbeziehung sein. Wenn wir solche Symptome erkennen, müssen wir aktiv werden. Dann können wir meist die sich anbahnenden Krisen noch vermeiden. Wenn wir das regelmäßig praktizieren, entwickeln wir allmählich ein instinktives Gespür dafür, ob sich unser Leben noch in Balance befindet. Außerdem entwickelt sich dabei unsere Fähigkeit aktiv unser Leben zu gestalten, was unser Selbstbewusstsein stärkt. Dann wirft uns auch nicht gleich jeder Windhauch aus der Bahn.

die furche: Balance im Leben ist aber nicht nur vom Individuum allein abhängig. Hier wirken doch auch andere Dinge hinein. Was sollen etwa Frauen tun, die zwischen dem Kinderwunsch und beruflicher Karriere wählen müssen? Oder Männer, die nur die Wahl zwischen beruflicher Mobilität und Gefährdung der Partnerbeziehung haben?

seiwert: Das ist für mich kein richtiger Denkansatz, weil er die Sache ganz traditionell mit einem Entweder-Oder-Modell zu lösen versucht. Auf diese Weise kommen wir aber nicht weiter. Wir können da von den Asiaten einiges lernen, die das nicht als einen Widerspruch sehen und eher nach dem Modell sowohl/als auch an derartige Probleme herangehen würden. Es ist kein Widerspruch, wenn eine berufstätige Frau oder Mutter in ihrem Beruf etwas zu leisten versucht, aber auch Zeit für ihre Familie und ihre Kinder haben möchte. Das erfordert natürlich ein konsequentes Life-Leadership, um das hinzubekommen. Aber möglich ist es. Es lassen sich überhaupt mehr Dinge miteinander vereinbaren, als wir oft glauben.

die furche: Woran kann ein Mensch erkennen, dass er richtig mit der Zeit umgeht?

seiwert: Paracelsus, dieser große Arzt des Mittelalters, hat gesagt, es gibt keine Gifte und keine Heilmittel, sondern nur Substanzen. Entscheidend ist die Dosierung, ob etwas toxisch oder heilend wirkt. Ähnlich ist es auch mit der Balance im Leben. Es ist ein Prozess, dorthin zu kommen. Und ich erkenne meinen Erfolg dann, wenn ich ein Gefühl der Zufriedenheit, Gelassenheit und Leichtigkeit erlebe. Dann nehme ich mich selber und die kleinen Dinge meines Lebens nicht mehr so wichtig. Und ich interessiere mich für die wirklich großen, wichtigen Dinge des Lebens und leiste meinen Beitrag für diese Gesellschaft.

die furche: Glauben Sie, dass sich der Beschleunigungsprozess, den wir jetzt erleben, weiter fortsetzen wird, oder rechnen Sie mit einem Umdenken in der Zukunft?

seiwert: Was die Zukunft bringen wird, wissen die wenigsten. Ich weiß es auch nicht. Die Erfahrung sagt uns aber, dass auf jeden Trend ein Gegentrend folgt. Und aus meiner Sicht sind bereits Anzeichen dafür da, dass nach Alternativen zur High-Speed-Gesellschaft gesucht wird. Es ist unverkennbar, dass das Bedürfnis nach Entspannung und Ruhe wieder größer geworden ist. Man kann dieses Streben sehr schön mit der chinesischen Lebensweisheit "Wenn du es eilig hast, gehe langsam" auf den Punkt bringen.

Das Gespräch führte Karl Vogd.

Zur Person: Experte für Zeitmanagement

Professor Dr. Lothar J. Seiwert ist Deutschlands tonangebender Zeitmanagement-Experte. Seine Berufslaufbahn begann er in der Personalabteilung von Mannesmann. Er wechselte dann zum Elektronikkonzern Standard Elektrik Lorenz, wo er seine ersten Seminare zum Thema Zeitmanagement konzipierte. Die dabei gewonnen Erkenntnisse fasste er im Buch "Mehr Zeit für das Wesentliche" zusammen. Es wurde nach der Übersetzung ins Amerikanische zum Business-Bestseller.

Dem ersten Erfolgstitel folgten zahlreiche weitere Bestseller, von denen bis jetzt weltweit etwa zwei Millionen Exemplare über die Ladentische gingen. Seiwerts Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Der erfolgreiche Autor gründete ein Institut für Time Management und Life-Leadership, das seinen Sitz in Heidelberg hat. Seiwerts Seminare und Vorträge zum Thema Zeitmanagement wurden von mehr als 100.000 Menschen besucht.

Weitere Informationen unter www.seiwert.de

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung