Wer bin ich? Und wie viele ungefähr?

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Identität gibt es. Identität muss geradezu sein. Wenn wir uns die historische Figur von Kaspar Hauser vor Augen führen, der seine Kindheit und Jugend völlig isoliert von anderen Menschen verbracht hat, liefert das ein gutes Beispiel dafür, dass die Menschen Identität benötigen. Aber: Identität ist nichts, was natürlich vorgegeben wäre. Sie verändert sich, und sie ist auch kulturell bestimmt. Vor allem aber ist Identität sowohl selbst-, als auch fremdbestimmt. Jeder Mensch hat entscheidend zu definieren, was sie oder er ist -in religiöser, nationaler oder politischer Hinsicht. Aber jeder Mensch ist auch bestimmt von der Wahrnehmung anderer. Diese Ambivalenz und Komplexität ist wesentlich.

Identität bedeutet immer auch Einschluss, und das heißt auch Ausschluss. Es gibt den bekannten Satz: Bevor wir wissen, wer wir sind, müssen wir wissen, wer wir nicht sind. Eine Identität schließt ein -uns - und aus -die Anderen. Mit welcher Undurchdringlichkeit das geschieht, ist wesentlich für die politischen Abläufe, und das Durchlässigmachen von Inklusivität und Exklusivität ist ein wichtiger Punkt, wenn man die Gesellschaft entsprechend der Vorgaben der universellen Menschenrechte gestalten will.

Identität ist auch eine Mischung aus objektiven und subjektiven Faktoren. Eine objektive Vorgabe ist Religion, Sprache oder Nationalität. Doch schon die Frage, ob Nationalität im Sinne einer ethnischen oder staatsbürgerlichen Zuschreibung bestimmt wird, zeigt schon die Schwierigkeit, eine einfache Antwort zu finden. Auch das Geschlecht ist ein objektiver Faktor, aber es ist ebenfalls nicht unveränderlich: Die Rolle der Frau, ihre Selbst-und Fremdbestimmung war in Österreich vor 100 Jahren anders als heute. Auch die Generation ist ein identitätsstiftender Faktor, ebenso Bildung -vor allem unter dem Megatrend der Globalisierung. Bildung steigert die Möglichkeiten eines Menschen, sein Leben zu gestalten, sie schafft vertikale und territoriale Mobilität, Stichwort Migration. Und es gibt auch eine politische Identität; dazu gehören die Zuschreibungen links-rechts oder konservativ-liberal-sozialistisch.

Mit Konflikten umgehen

Zu diesen objektiven Faktoren kommen noch subjektive. Aber zugleich ist die Selbstzuschreibung nicht zwingend vorgegeben. Ein Beispiel, das gerade in Zusammenhang mit der Geschichte der Religionen heikel ist, ist die Konversion. Tatsächlich gehört die Freiheit, die religiöse Identität zu bestimmen, zu den Grundsätzen der Menschenrechte, aber die Umsetzung dieser Freiheit ist in der Realität nicht selbstverständlich gegeben.

Weil Identität Einschließung und Ausschließung ist, bedeutet das Konflikt. Der demokratische Rechtsstaat ist der am weitesten fortgeschrittene Versuch, mit solchen Konflikten umzugehen. Der primäre Zugang des Marxismus waren Konflikte entlang der Linie Klasse, beim politischen Katholizismus oder Islam wird die religiöse Identität zum Kernpunkt genommen. Auch der Brexit ist deswegen so kompliziert, weil er die Wahrscheinlichkeit des Aufflammens von gewaltsamen Konflikten zwischen Katholiken und Protestanten wieder wahrscheinlicher macht.

In vormodernen Gesellschaften ist Identität relativ einfach. Es gibt hier aus der Geschichte Europas den Begriff des Ghettos, der zwar aus der jüdischen Geschichte kommt, aber nicht nur für sie wichtig ist. Ein Ghetto ist eine Gemeinschaft, in der eine Identität fremdbestimmt -die Ghettomauern sind ja primär von außen definiert - aber auch selbstbestimmt alles regelt. In diesem Ghetto gibt es keine Freiheit, über die Grenzen dieser in Form von Ghettomauern buchstäblich vorgeschriebenen Identität hinwegzugehen. Modernisierung im Zuge der Aufklärung bedeutet hingegen, dass Ghettomauern in jeder Form durchlässig werden, dass Menschen sich bewegen können. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein 1850 geborenes Mädchen im Tiroler Ötztal in ihrem leben je das Ötztal verlassen wird, war sehr gering. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein 2000 geborenes Mädchen das Ötztal verlassen wird, ist sehr hoch.

Vertikale und territoriale Mobilität

Doch die Modernisierung verändert die Problematik in einer ambivalenten Weise. Negativ, weil etwa Menschen, die geglaubt haben, im christlichen Abendland zu leben, plötzlich erfahren, dass Menschen auftauchen, die nicht zum christlichen Abendland dazugehören (wollen) und in Konkurrenz um Arbeitsplätze stehen. Aber die Modernisierung ist auch eine große Chance, weil sie die Steigerung der Möglichkeit bedeutet, das eigene Leben zu bestimmen. Und die Migration ist ja die Folge dessen, dass Menschen ihr Leben so definieren, dass sie ihre Lebenschancen wo anders besser wahrnehmen wollen: Amerika ist das Produkt von Migration, einer bestimmten Form von Beweglichkeit. Migration lässt sich also als altes Muster dekonstruieren. Niemand hat ständig in New York gelebt. Niemand ist seinem oder ihrem Wesen nach wahrer Finne. Und wenn wir historisch wahre Österreicher konstruieren wollten, könnte das einen Rechtsanspruch der Republik Irland auf hiesiges Territorium kreieren; denn hier waren vor 2000 Jahren Kelten, die heute in Irland sind. Allein das zeigt die Probleme, wenn Identität vereinfacht und politisch instrumentalisiert wird. Auch der Begriff "Identitäre Bewegung" weist darauf hin. Identität mit wem? Mit den Kelten aus Irland?

Identität ist also historisch veränderbar. Dennoch gibt es die Versuchung, sie ahistorisch festzuschreiben, und damit die individuelle Freiheit wegzunehmen, die eigene Identität selbst festzulegen. Es ist die Versuchung jedes Fundamentalismus, auch des religiösen, sei er christlich, muslimisch, jüdisch oder buddhistisch -man denke etwa an die Ereignisse in Myanmar. Dieser Fundamentalismus baut auf der Vorstellung auf, dass uns eine einzige Identität beherrscht. Aber wenn wir näher hinschauen, dann ist kein Mensch nur Katholik, sondern auch Frau oder Mann, jung oder alt, in einer Großstadt lebend oder am sogenannten Land. Alles das stiftet Identität, und jede Identität ist eine Mehrfach-Identität. Die fundamentalistische Versuchung ist, diese Vielfalt der einander überkreuzenden Identitäten zu leugnen und damit die Freiheit zu nehmen, aus dieser Vielfalt selbst Aspekte zu setzen, etwa sich als Katholik politisch links zu definieren, was noch vor 100 Jahren schwierig war. Und letztlich ist die fingierte Einfachheit von Identitätsbestimmung latent totalitär.

Akzeptieren von Autonomie

Wie geht man nun aber mit dieser Vielfalt um? Wie geht man damit um, dass Gesellschaften Probleme haben mit dieser Vielfalt zurandezukommen -mit dem Fokus auf Migration, auf das Eigene, das sich vom vermeintlich oder tatsächlich Fremden bedroht fühlt? Es gibt hier einige Muster. Ein Muster ist das Akzeptieren der Autonomie von Identitäten. Und da liefert Österreich ausnahmsweise ein sehr positives Modell: Jenes der staatlich anerkannten Religionsgesellschaften, das auf dem Staatsgrundgesetz von 1867 beruht. Unter bestimmten Voraussetzungen werden Religionsgesellschaften mit Autonomie und bestimmten Rechten ausgestattet, in Österreich etwa dem Recht auf Religionsunterricht, dessen Inhalt von der Religionsgesellschaft im öffentlichen Schulwesen selbst bestimmt wird. Diese österreichische Autonomie-Tradition ist eine Möglichkeit, sie kann sich reiben mit Teilen der öffentlichen Meinung, doch an diesem Muster festzuhalten, wäre sehr wichtig.

Es gibt noch andere ethnonationale Beispiele für diese Autonomie. Die USA, deren Geschichte ja eine der brutalen ethnischen Säuberung unter den Ureinwohnern war, haben spät, aber doch eine Lösung gefunden: Reservate. Im Südwesten der USA kann man die Reservation der Navajos besuchen, die größte der sogenannten Indian --Reservations. Dort gibt es eine eigene Navajo-Polizei, eine eigene Hochschule und eine eigene Sprache, die im Zweiten Weltkrieg von der Kriegsmaschine der Vereinigten Staaten genützt wurde, weil sie von den Japanern nicht entschlüsselt werden konnte. Aber mitten in der Navajo-Reservation ist die der Hopi eingelagert, und die Hopis sind als viel kleinere Ethnizität quasi gezwungen zu definieren, was sie nicht sind, nämlich keine Navajos. Die Navajo-Mehrheit respektiert aber die Autonomie der Hopis, ihre Schulen und ihre Sprache. Wenn etwa ein Navajo ein College im Navajo-Territorium absolviert und dann nach Chicago geht, verwischt sich das. Aber es zeigt, dass auch geschützte Identitäten nicht festgeschrieben werden können.

Was also tun? Es gibt nicht eine Formel, wie wir mit der oft aufeinanderprallenden Vielfalt von Identitäten umgehen können. Es gibt aber die ganz reale Erkenntnis, dass es kein Entweder-Oder gibt. Man kann sich zwar entscheiden, ob man Christ ist oder Muslim sein will, aber dazu gibt es eben auch die Identitätsstiftung über Mann und Frau, alt und jung. Niemand ist nur Muslim oder nur Katholik, sondern jeder ist mehr. Das ist Wirklichkeit. Aber diese Wirklichkeit muss auch akzeptiert und darf nicht verwischt werden durch ein fundamentalistisches Wunschdenken, das durch Vereinfachung Feindbilder schafft und zu konstruierten Freund-Feind-Linien mobilisiert. Akzeptieren wir die Vielfalt in uns und in den Anderen. Wir müssen das nicht erfinden, wir müssen es nur respektvoll zur Kenntnis nehmen.

Der Text ist die gekürzte Version des Vortrags "Identität -Vielfalt oder Einfalt?", den Anton Pelinka auf Einladung der Gemeinnützigen Privatstiftung Anas Schakfeh gehalten hat. Redaktion: Doris Helmberger.

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