Tommy Scholtes - Tommy Scholtes, Sprecher der belgischen Bischofskonferenz - © Foto: Alexander Stein

Wer entscheidet über das Sterben?

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Belgien beschließt die Sterbehilfe für Minderjährige. Ein Arzt, ein Priester und ein Politiker mit widerstreitenden Meinungen geben Einblick in ein umstrittenes Thema.

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Belgien beschließt die Sterbehilfe für Minderjährige. Ein Arzt, ein Priester und ein Politiker mit widerstreitenden Meinungen geben Einblick in ein umstrittenes Thema.

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Es ist ein Skandal! Diese Feststellung liegt in jeder Frage, die Christiane Amanpour dem belgischen Senator stellt. "Finden Sie es nicht furchtbar?“, fragt die CNN-Moderatorin den Politiker, der ihr aus Brüssel live in die Sendung zugeschaltet ist. Der emotionelle Ton passt eigentlich nicht zum Ruf der Starjournalistin, aber es geht schließlich um ein heikles Thema: Das belgische Oberhaus hat an diesem Tag im November 2013 dafür gestimmt, dass schwerstkranke Minderjährige das Recht auf Sterbehilfe bekommen. Auch der CNN-Redaktion geraten da die Begrifflichkeiten durcheinander: "Support for Legal Suicide" betitelt sie eine Grafik zum Thema.

Der Interviewte Jean-Jacques De Gucht, 30, bleibt ruhig. Er, der einst den Entwurf einreichte, das seit 2002 bestehende Sterbehilfegesetz auf Minderjährige auszudehnen, erklärt, dass es um Personen gehe, die sich im Endstadium einer unheilbaren Krankheit befinden, ohne Aussicht auf Besserung, und unerträglich leiden. Das wichtigste Kriterium muss er ein paar Mal wiederholen, weil Amanpour ihm ins Wort fällt: volle Zurechnungsfähigkeit. Neben dem schriftlich festgehaltenen Ersuchen um Sterbehilfe ist nicht nur die Zustimmung der Eltern nötig, sondern auch ein entsprechendes psychologisches Gutachten.

Einige Wochen später. Ein Treffen mit Jean-Jacques De Gucht in Brüssel. Warum widmet sich der Senator ausgerechnet dem freiwilligen Lebensende Todkranker? Für De Gucht ist das eine ideologische Frage. "Ich bin Liberaler, mein Grundanliegen ist Entscheidungsfreiheit. Und das Wichtigste, über das man entscheiden kann, ist das eigene Leben. Meine Aufgabe als Politiker ist es, Menschen diese Möglichkeit zu geben.“ In einem Artikel in der Tageszeitung De Tijd nannte er es unlängst "diskriminierend“, dass Minderjährige dieses Recht auf Selbstbestimmung nicht hätten. Es ihnen zu geben, sei ein "Akt der Menschlichkeit“.

Die Angst vor dem Tod

Ob er selbst Sterbehilfe in Anspruch nehmen würde, weiß der Senator nicht. Er hat Angst vor dem Tod, mehr noch, seit vor einem halben Jahr sein Sohn geboren wurde. Ihn zurückzulassen, statt ihn aufwachsen zu sehen - eine qualvolle Vorstellung. Sicher ist er sich indes, dass er im Falle eines Falles selbst entscheiden will. "Ich finde es beunruhigend, dass Menschen anderen diese Freiheit nehmen wollen.“ Damit trifft er zumindest in Belgien auf Zustimmung: Bis zu 85 Prozent der Belgier befürworten Sterbehilfe, und rund drei Viertel wollen, dass diese auch für Minderjährige gilt. Mit 50 zu 17 Stimmen entschied sich der Senat klar für De Guchts Entwurf. Warum? "Viele Menschen haben einfach ihre Erfahrungen mit Leiden gemacht.“ Der Tod habe sich noch nie um Parteigrenzen gekümmert.

Die letzten Gruppen in Belgien, die sich gegen die Ausbreitung der Sterbehilfe wehren, sind religiöse Organisationen. Auf katholischen Websites wird in diesen Tagen zu Mahnwachen, Fasten und Gebet aufgerufen, um die Annahme des Gesetzes am Donnerstag dieser Woche doch noch zu verhindern. Belgiens Erzbischof André-Joseph Léonard warnt, mit der Ausweitung der Sterbehilfe würde eine Tür geöffnet, die nie mehr zu schließen sei. Schon im November warnten hohe jüdische, muslimische und verschiedene christliche Repräsentanten in einem offenen Brief: "Dem Leben ein Ende bereiten ist eine Tat, die nicht nur ein Individuum tötet, sondern das soziale Gewebe der Gesellschaft.“

Das Gewebe des Lebens

Was meinen die Verfasser des Schreibens damit? Die Antwort liegt hinter den dicken Mauern der Maison Saint Michel. Hier, in einem Jesuitenkloster im Brüsseler Norden, wohnt Tommy Scholtes, der Sprecher der belgischen Bischofskonferenz. "Es geht um das Gewebe des Lebens“, beginnt er. "Solidarität. Sich gegenseitig stützen und begleiten, bis zum Tod. Da können wir nicht beschließen, bestimmte Kinder zu Tode zu bringen. Und abgesehen davon: ein Kind kann nichts beschließen, ohne eine Unterschrift von Erwachsenen. Sollen Kinder also künftig andere fragen können, ihr Leben zu beenden?“

Wir können nicht einfach beschließen, bestimmte Kinder zu Tode zu bringen. (Tommy Scholtes, Sprecher der belgischen Bischofskonferenz)

Es ist nicht einmal das fünfte Gebot, das Tommy Scholtes als erstes Argument bemüht. "Es ist nicht nötig, medizinisch gesehen. Experten und Ärzte haben mir das bestätigt.“ Seine Alternative: Palliativmedizin gegen die körperlichen Schmerzen, emotionale Zuwendung gegen die seelischen. Beide Begriffe sind für ihn nicht nur Theorie.

Dreimal wöchentlich kommt er mit seiner Seelsorgergruppe in ein Brüsseler Krankenhaus. Ein paar sind Priester wie er, die anderen Laien. Jeder kümmert sich um feste Abteilungen, Scholtes ist für Kardiologie und Intensivstation zuständig. Regelmäßig hat er dort mit Sterbenden zu tun - ab und an auch mit solchen, die dazu Hilfe in Anspruch nehmen.

Der letzte Beistand

Tommy Scholtes mag das nicht gut finden, doch er ist kein Dogmatiker. Er muss einem Kranken, den er begleitet, nicht sagen, was er für richtig oder falsch hält. Das letzte Gebet kurz vor der Injektion - das macht er. Beim Akt selbst will er nicht zugegen sein. Eine Frage drängt sich auf: Gab es dort im Krankenhaus jemals einen Fall, eine Situation, die ihn zum Zweifeln brachte? Bedächtig wiegt der Pfarrer den Kopf hin und her, dann antwortet er entschieden: "Nein! Auch wenn man selbst bei Palliativmedizin nicht immer ruhig stirbt.“

Genau hier liegt ein entscheidender Punkt in der Diskussion. Befürworter der Sterbehilfe sagen, Palliativmedizin reiche manchmal eben doch nicht aus. Auch Wim Distelmans, Professor für Palliativmedizin an der Freien Universität Brüssel, teilt diese Ansicht. Vor den Toren der Hauptstadt leitet der Krebsspezialist ein palliatives Pflegezentrum. "Diese Art der Medizin beruht auf vier Säulen: gute Schmerzkontrolle, gute Symptomkontrolle, psychische Unterstützung und soziale Unterstützung. Doch trotz guter palliativer Pflege gab es Patienten, die unerträglich litten, denen wir nicht helfen konnten.“

Im Februar 2013 ist Wim Distelmans einer der Experten, die im belgischen Senat zum Thema gehört werden. Mehrere Mediziner sprechen dort offen aus, was jeder ahnte. Sterbehilfe für Minderjährige wird bereits praktiziert. 2010 kursierte sogar einmal eine Zahl, 13 Fälle soll es in anderthalb Jahren gegeben haben, offiziell aber ist sie nicht. Es ist sehr gefährlich, darüber zu sprechen, so der Tenor bei der Anhörung im Senat. Die Grauzone belastet alle, die mit ihr zu tun haben. Es gibt Geschichten wie diese: Ein kleines Kind, das durch einen Gehirntumor im Endstadium immenses Leid hatte. Der Hausarzt verweigerte Sterbehilfe. Über Umwege kam der Vater des Kindes mit einem anderen Arzt in Kontakt. Der besorgte das Mittel, sie trafen sich irgendwo auf einem Parkplatz, der Vater verabreichte es seinem Kind.

Ärztliche Konfliktsituation

"Wenn es nur einen solchen Fall gibt, müssen wir dafür das Gesetz erweitern“, ist Wim Distelmans überzeugt. Gleichzeitig räumt er ein, dass gerade durch den Hippokratischen Eid eine Konfliktsituation besteht: Gilt es nun, das Leben zu beschützen oder Leiden zu beenden? "Manchmal kann man das Leben nicht mehr schützen, um Leiden zu beenden.“ Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, betont Distelmans, dass Sterbehilfe natürlich nur auf Gesuch des Patienten geschehe. Bei einigen Gegnern hält sich noch immer das Bild, Angehörige könnten sich missliebiger Kranker durch entsprechende Gesetze und Ärzte, denen die Spritze locker sitzt, entledigen.

Und dann kommt Wim Distelmans mit einem persönlichen Beispiel, um die Sache auf den Punkt zu bringen: "Mein Vater war dement. Niemals hätte er um Sterbehilfe gefragt. Also pflegten wir ihn zu Hause, mehr als ein Jahr lang. Aus Respekt vor dem, was er wollte, als Mensch und als Patient. Und genau um diesen Respekt geht es. Aus diesem Respekt heraus sind wir für die Möglichkeit der Sterbehilfe.“

Sollten Sie sich in einer ausweglosen Situation sehen, finden Sie Hilfe unter www.suizid-praevention.at sowie rund um die Uhr bei der Telefonseelsorge unter der Nummer 142.

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