Wer sind die Täter, wer die Opfer?

Werbung
Werbung
Werbung

Gewalt unter Jugendlichen ist ein Thema, das sowohl in den Medien als auch in der Wissenschaft immer wieder kontroversiell diskutiert wird. Hier ein Blick auf die Untersuchungsergebnisse der letzten Jahre.

Die Vertreter der Gruppe, die von einer Eskalation der Gewalt an Schulen sprechen, dramatisieren oft in spektakulärer Weise Einzelfälle, um aus diesen generalisierende Aussagen über die Situation in allen Schulen abzuleiten. Die Gesamtzahl der in der polizeilichen Kriminalstatistik angeführten Gewaltdelikte im Schulbereich bewegt sich jedoch unterhalb des Promillbereichs (bezogen auf die Gesamtzahl der Schülerinnen und Schüler). Allerdings konnte zumindest in deutschen Bundesländern ein Anstieg dieser Delikte von 200 im Jahre 1991 auf 382 im Jahre 1995 festgestellt werden (Landeskriminalamt Niedersachsen, 1996). Dieser Anstieg wird jedoch von vielen Forschern auf den Wandel in den Normvorstellungen, ab wann von Gewalt gesprochen wird, zurückgeführt.

In welchem Ausmaß und in welcher Form wird Schülergewalt ausgeübt? Dazu liegen zum Beispiel Selbstreport-Daten von 3.540 Schülerinnen und Schülern aus Hessen vor: Am häufigsten - etwa 25 Prozent der Befragten gaben an, es zumindestens mehrmals im Monat zu tun - werden anderen im Unterricht verspottet, geärgert, beworfen oder beschossen. Andere auf dem Schulweg auflauern, sie bedrohen oder verprügeln wird von etwa fünf Prozent berichtet. Häufige Gewalthandlungen werden nur von einem kleinen Teil der Schülerschaft begangen, wobei es deutliche Unterschiede in Abhängigkeit von den Schulformen und vom Geschlecht gibt. Knaben üben zwei- bis dreimal so häufig Gewalthandlungen aus wie Mädchen. Die höchste Gewaltquote wurde in Sonderschulen festgestellt, die niedrigste in Gymnasien.

Das heißt: Schüler und Schülerinnen, die sowohl überproportional mit Lernproblemen und Schulversagen als auch mit psychosozialen und erzieherischen Problemen im außerschulischen Umfeld belastet sind (SonderschülerInnen), deren Konfliktlösungs- und Problembewältigungshandeln ist von aggressiven Verhaltensmustern geprägt. Weiters wurde festgestellt, dass Gewalttäter auch häufig gleichzeitig Gewaltopfer sind.

Waffen spielen ebenfalls eine nicht zu unterschätzende Rolle im schulischen Alltag. Etwa 25 Prozent der Schüler geben an, Gegenstände zu ihrer Verteidigung bei sich zu tragen, wie zum Beispiel eine Erhebung von Dettenborn (1993) in Berlin zeigt.

Quälen & sekkieren

In den letzten Jahren wurde ausgehend von den skandinavischen Ländern zunehmend eine spezifische Gewaltform untersucht: die interpersonelle Gewalt zwischen Schülerinnen und Schülern beziehungsweise zwischen Schülern und Lehrpersonen. Die Täter werden von Dan Olweus, auf den diese Forschungsrichtung zurückgeht, als Bullies bezeichnet, wofür es in der deutschen Sprache keine optimale Übersetzung gibt. Am nähesten dem englischen Wort Bullying kommen noch Begriffe wie Schikanieren, Quälen, Sekkieren, Malträtieren. Beim Bullying handelt es sich um aggressives Verhalten beziehungsweise absichtliches Schädigen anderer Schülerinnen und Schüler, das wiederholt und über längere Zeit ausgeübt wird.

Die Angriffe richten sich gegen einzelne Opfer, wobei ein wesentliches Kennzeichen ist, dass ein Machtungleichgewicht besteht; das heißt Raufereien gleich starker Gegner werden nicht als Bullying bezeichnet. Die Studienergebnisse zeigen, dass Bullying zu 50 Prozent in dyadischen Interaktionen stattfindet - das heißt ein Täter schikaniert ein Opfer - und zu 50 Prozent in Form von Aggressionen mehrerer Schüler gegen ein Opfer. Die Angriffe können sowohl physisch als auch verbal, direkt und indirekt sein, das heißt, es gehört Schlagen, Schubsen, Bedrohen, Beleidigen, aber auch sozial Ausgrenzen dazu. Manche Autoren sehen darin auch große Parallelen zum Mobben am Arbeitsplatz.

Ebenso wie es die typischen Bullies (Täter) gibt, die sich dominant, uneinfühlsam und impulsiv verhalten, gibt es auch die typischen Opfer, die als Victims bezeichnet werden. Sie verhalten sich ängstlich und unterwürfig, haben Selbstwertprobleme und sind eher isoliert. Die Opfer bilden jedoch keine homogene Gruppe.

Die Angaben zum prozentualen Vorkommen von Bullies und Victims schwanken. Mehrheitlich werden zwischen fünf Prozent und zehn Prozent Täter und etwa ebenso viele Opfer angegeben. Die zahlenmäßig umfangreichste Erhebung in Österreich, in der eine für Niederösterreich und Wien repräsentative Stichprobe von AHS- und Hauptschülern der 8. Schulstufe untersucht wurden, ergab nach Selbstangaben folgende Prozentzahlen: 14,2 Täter, 6,1 Opfer und 7,5 Prozent Täter-Opfer.

Ursache Elternhaus

Alter und Geschlecht beeinflussen die Auftretenshäufigkeit, aber noch mehr die Form der Angriffe und die Wahl der Opfer. Jüngere Schülerinnen und Schüler sind häufiger Opfer und ältere häufiger Täter. Außerdem sind Knaben im Vergleich zu Mädchen häufiger gleichzeitig Täter und Opfer. Mädchen bevorzugen indirekte Formen der Aggression - Gehässigkeiten, sozialer Ausschluss Gerüchte - Knaben dagegen direkte Formen wie körperliche Angriffe.

Mädchen als Täterinnen suchen sich Mädchen als Opfer; männliche Täter greifen dagegen sowohl weibliche als auch männliche Opfer an. Während kein Effekt der Klassengröße beobachtet werden konnte, konnte ein Effekt der Klassenzusammensetzung festgestellt werden. In geschlechtsgemischten Schulen gibt es weniger Bullying als in reinen Mädchen- oder reinen Knabenschulen.

Bei allen diesen Angaben ist jedoch insofern Vorsicht angebracht, als die Erhebungsmethode eine wesentliche Rolle für die Ergebnisse spielt. Generell ist man in diesem Forschungsfeld entweder auf Statistiken angewiesen (die ihrerseits problematisch sind) oder auf Befragungen. Denn bei Beobachtungen würden vermutlich viele Gewalthandlungen unterlassen werden, sofern der Beobachtete darum weiß ...

Wie wird man nun zum Täter beziehungsweise zum Opfer? Gibt es systematische Unterschiede in den Lebensbedingungen zwischen diesen beiden Gruppen und auch zu den Kindern und Jugendlichen, die keiner der beiden Gruppen angehören?

Für Bullying, das im Extremfall zu Delinquenz führt, gibt es nicht eine Ursache, sondern es ist im allgemeinen multipel determiniert und basiert auf einer Interaktion zwischen Anlage- und Umweltbedingungen. Eine Reihe von Untersuchungen zeigten, dass neben Persönlichkeitsmerkmalen (hier sind natürlich auch genetische Effekte zu bedenken) langfristige Einflussfaktoren in der Familie aber auch in der schulischen Umwelt eine wesentliche Rolle spielen. Hinsichtlich Persönlichkeitsmerkmalen konnte belegt werden, dass Bullying in der Schule mit externalisierenden Störungen einhergeht und Viktimisierung mit internalisierenden Störungen wie Angst und Depressionsneigung.

Wie wir in einer eigenen Studie 1999 zeigen konnten, haben Bullies auch Probleme, mit sozialen Konflikten umzugehen. Im Vergleich zu anderen Jugendlichen reagieren sie in Stresssituationen viel häufiger mit dem Ausagieren von Emotionen, suchen seltener soziale Unterstützung und verwenden weniger oft problemorientierte Lösungsstrategien.

Interessanterweise sind die familiären Bedingungen offensichtlich für Bullies und Victims relativ ähnlich. In den Familien fehlt es emotionaler Wärme und Akzeptanz, speziell von Seiten der Mutter; bei Victims zeigen die Mütter teilweise auch extreme Überbehütung. Das Erziehungsverhalten ist inkonsistenz, das heißt, es schwankt zwischen extremer Strenge und Gleichgültigkeit ohne Grenzsetzungen. Die Eltern sind selbst aggressive Modelle; häufig gibt es Streit und Gewalt in der Familie.

Den Zusammenhang zwischen Familienklima und aggressivem Verhalten konnten wir auch in eigenen Studien bestätigen. Die Familien von Bullies zeichneten sich laut der Ergebnisse unserer Untersuchung durch das Fehlen eines positiv-emotionalen Familienklimas aus (Singer & Spiel, 1998). Teils durch diese familiären Erfahrungen, teils auch durch genetische, prä- und perinatale Einflüsse entwickeln diese Kinder aggressive aber auch ängstliche Verhaltensmuster. Als Folge haben sie auch Probleme positive Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen.

Beliebte Horrorfilme

Nach Olweus (1994) haben auch die Peergruppe und Massenmedien einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf die Entstehung aggressiven Verhaltens. So konnten wir in einer Untersuchung in vierten Hauptschulklassen zeigen, dass sich Bullies von den anderen Jugendlichen durch den hohen Konsum von Horrorfilmen unterscheiden. Dies kann jedoch auch als ein indirekter Beleg für die Vernachlässigung durch die Familie interpretiert werden.

Auch die schulischen Bedingungen haben Einfluss auf Gewalt- und Aggressionsverhalten. Dabei sind es weniger strukturelle Merkmale, wie zum Beispiel große Klassen, bauliche Gegebenheiten und so weiter, sondern die Art und Weise wie auf Aggressionen reagiert wird, inwieweit diese geduldet oder gar bekräftigt werden. Als besonders negative Schulklimamerkmale hinsichtlich der Entstehung von Gewalthandlungen zeigten sich Restriktivität und fehlende Akzeptanz in der Lehrer-Schüler Beziehung. Hinsichtlich Lernkultur reduzieren ein förderndes Lehrerengagement und ein schülerorientierter Unterricht Aggression und Gewalt.

Wenn hier von Gewalt in der Schule gesprochen wird, so ist es ganz wichtig zu betonen, das es sich hier nicht um ein situationsspezifischen Verhalten handelt, das heißt, dass die Täter nur in der Schule aggressives Verhalten zeigen, sondern vielmehr um ein durchgängiges Syndrom der Antisozialität. In der Schule aggressive Jugendliche konsumieren häufiger Alkohol und Drogen, gehören Banden an, schwänzen Schule und so weiter. Ebenso konnte gezeigt werden, dass Bullies eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, später kriminell zu werden als andere Jugendliche.

Deutlich weniger empirische Studien beschäftigen sich mit den Opfern von Gewalthandlungen als mit den Tätern. In einigen dieser Arbeiten wurde versucht Verhaltensweisen zu identifizieren, die zur chronischer Victimisierung führen. Danach sind Kinder, die sich nicht behaupten können oder wollen, besonders gefährdet, Opfer von Gewalthandlungen zu werden. Auch Unterwürfigkeit kennzeichnet Kinder und Jugendliche als Opfer. Als Folgen von Bullying zeigten die Opfer weniger Spass an der Schule, höhere Depressivität und einen geringeren Selbstwert. Weiters erlebten sich die Opfer als sozial abgelehnt.

Die Autorin ist

Professorin am Institut für Psychologie der Universität Wien. Sie ist zuständig für die Bereiche Pädagogische Psychologie und Bildungsforschung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung