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Die pauschalen Verdächtigungen der Wähler der Ex-DDR durch Edmund Stoiber offenbaren einen tiefen Riss zwischen den Gehirnen, Mentalitäten und Biografien - nicht nur in Deutschland.

Es können halt nicht alle so g'scheit sein wie die Bayern, und schon gar nicht so vif wie der Stoiber-Edi. So könnte man sich lustig machen und sich fragen, welcher Teufel den bayrischen Ministerpräsidenten reitet, dass er den Wahlsieg von Angela Merkel mit seinen Beleidigungen der ostdeutschen Wähler vermasseln will. Und man könnte eins draufsetzen und sagen: Der, der die Ossis global als Frustrierte beschimpft und nicht will, dass sie entscheiden, wer Kanzler wird, hat selbst den Frust als gescheiterter Kanzlerkandidat des Jahres 2002 nicht überwunden.

Aber die Pauschalverdächtigungen der ostdeutschen Wähler offenbaren eben nicht nur das mangelnde taktische Geschick Stoibers, sondern den Riss, der noch immer zwischen den Gehirnen, Mentalitäten und Biografien in Deutschland verläuft. Anfang August hatte Brandenburgs Innenminister Jörg Schönbohm (cdu) nach Bekanntwerden der Tötung von neun Babys durch ihre eigene Mutter in den Jahren 1988 bis 1999 erklärt, die erzwungene "Proletarisierung der ostdeutschen Bevölkerung in ländlich strukturierten Räumen" durch das sed-Regime sei eine wesentliche Ursache für Verwahrlosung und Gewaltbereitschaft. Wie Stoiber die politische Mündigkeit, so stellte Schönbohm die ethischen Qualitäten der Menschen in den neuen Bundesländern unter Generalverdacht.

Manche Kritiker Schönbohms schossen so weit übers Ziel, dass sie erklärten, solche Verbrechen geschähen unabhängig von einem sozialen Milieu. Mittlerweile sind durchaus seriöse Untersuchungen aufgetaucht, die nachweisen wollen, dass die Verbrechen an Kindern in der Ex-ddr tatsächlich häufiger seien als im alten Westen. Nur: Falls sie stimmen - was besagen sie? Vielleicht, dass Wegschauen und Nichteinmischen zur alltäglichen Lebensstrategie gehörten und solche Verbrechen eher vertuscht werden konnten; doch sicher nicht, dass der Kommunismus den Wert der Familie und der Primärbeziehungen zerstört hat - eher herrschte sozialistisches Biedermeier, ein Rückzug ins Private. Familienbeziehungen sind zerfallen, als diese Menschen über Nacht in den Überlebenskampf und den westlichen Individualismus katapultiert wurden.

Hier zeigt sich ein Umgang der "Wessis" mit dem "Osten", der sich in Deutschland verschärft, weil er innerhalb desselben Staates geschieht, der aber oft auch andernorts den Blick auf die postkommunistischen Länder prägt: Weil man keinerlei eigene Erfahrung damit hat, sieht man das alltägliche Leben in den kommunistischen Ländern nur als Terror und die herausragende Leistung ihrer Bewohner in der Beseitigung dieses Regimes im Jahr 1989. Und seither sollen sie unsere Modelle übernehmen und dankbar sein. Besonders in Deutschland kann man dazu auch noch in Kolonistenmanier sagen: Wir haben ja so viel investiert! Was Tausende erlebt haben, die ihre Arbeit und Lebensperspektiven verloren, wird als Kollateralschaden unter den Teppich der Wirtschaftsdaten gekehrt.

Tatsache ist: Durch Deutschland, aber auch durch die eu und durch ganz Europa geht ein Riss, der nicht die Schuld derjenigen Menschen ist, deren Länder nach dem Zweiten Weltkrieg der sowjetischen Einflusssphäre anheim fielen. Das hat andere Sichtweisen der neueren Geschichte bedingt, wie eine Furche-Serie über das Ende des Zweiten Weltkrieges zeigt. Sie werden gerade jetzt beim Polen-Besuch von cdu-Chefin Angela Merkel, die sich für das umstrittene Vertriebenen-Zentrum in Berlin stark macht, wiederum deutlich. Das Verstehen dieser anderen Erfahrungen kann erst beginnen, wenn pauschale Abqualifizierungen bezüglich Intelligenz oder Ethik dem Respekt vor fremden Erfahrungen Platz machen.

Bayrische Klugheit und christliche Werte gegen (post)kommunistische Unmündigkeit und Verrohtheit - wer diese Geschütze abfeuert, gefährdet das schwierige Zusammenwachsen Deutschlands und Europas. Ost-West-Unterschiede einfach zu leugnen, führt freilich ebenso wenig weiter. Besser, man erklärt sie sich gegenseitig. Dafür sind noch viele Daten, Erzählungen und Milieustudien nötig. Jedes abscheuliche Verbrechen wird man damit jedoch nicht erklären können - weder in Berlin noch in einem Grazer Villenviertel.

cornelius.hell@furche.at

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