Wie aus Aggression Gewalt entsteht

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Von der konstruktiven Aggression zur destruktiven Gewalt ist es oft nur ein kleiner Schritt Die Wissenschaft hat ihn vermessen - und wüßte, wie der Gewalt vorzubeugen wäre.

Aggression als solche ist nicht negativ zu bewerten. Doch welches Aggressionsmaß kann in Hinblick auf die Beziehungsfähigkeit und Selbstbejahung als gesund, als normal eingestuft werden? Der Kriminologe Jens Weidner bietet dazu eine Formel der Verhältnismäßigkeit: "Der Richtwert lautet, 80 Prozent der Persönlichkeit sollten einfühlsam, teamorientiert und solidarisch sein. Die restlichen 20 Prozent sollten aus Durchsetzungsstärke bestehen.“

Die Schwierigkeit besteht darin, eine klare Trennlinie zwischen konstruktiver und destruktiver Aggression zu ziehen. Die Frage lautet, wann kippen Aggressionen konkret ins Negative? Weidner: "Aggression ist immer dann negativ, wenn sie bewusst Dritte schädigt. Zum Beispiel, wenn andere gemobbt, gekränkt oder verletzt werden.“

Diese Definitionen mögen einfach sein. Höchst komplex hingegen ist das Zusammenwirken von Ursachen, die eine Präsdisposition für Gewalt ergeben. Denn erst daraus ergibt sich ein Aufschluss darüber, wie das jedem Menschen eigene Aggressionspotenzial genutzt wird.

Gewalt als Ausdruck von Unsicherheit

Aggression an sich beschreibt eine neutrale Verhaltens- oder Gefühlsdisposition. Im Gegensatz ist Gewalt als eine Ausdrucksform, als kleine Teilmenge von Aggression, zu verstehen.

Was aber muss passieren, dass Grenze überschritten, dass die Hemmschwelle gänzlich ausgeblendet wird?

So paradox es klingen mag: Aggressives Verhalten, das in Gewalttätigkeiten mündet, drückt häufig eine massive Selbstunsicherheit aus. Der Autor Pierre Daco beschreibt in seinem Werk "Psychologie für jedermann“ einen gewalttätigen Menschen, der seine Selbstwertproblematik über Gewalthandlungen kompensiert und dadurch in einen Teufelskreis gerät: "Manchmal spürt er jedoch, dass alles nicht ganz echt ist, dass seine Kraft nur Scheinkraft, seine zersplitterte Energie bloß Scheinenergie ist. Er spürt den Widerspruch zwischen dem, was er zu sein scheint, und dem, was er ist, wie der Perfektionist. Und aus diesem Widerspruch entstehen Angstgefühle, die er auszugleichen versucht, und zwar dadurch, dass er seine Aggressivität noch verstärkt! Er verausgabt seine Energie und versucht alles um sein Niveau zu halten.“ Das gewalttätige Agieren verleiht der betreffenden Person gegenüber dem anderen ein Gefühl der Überlegenheit: "Ich bin der Stärkere. Du bist mir in jedem Fall unterlegen.“ Unstimmigkeiten mit dem eigenen Ich rücken dadurch in den Hintergrund, so Daco. Das bedeutet: Je unsicherer, je labiler die Lebensbedingungen, je unklarer die Perspektiven, je weniger verlässlich das soziale Netzwerk ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für Gewalthandlungen und deren Fortbestand.

Aggressivität teils erblich bedingt

"Tiere machen keine Banküberfälle“, stellte der US-Neuropsychologe Adrian Raine einst lakonisch fest. Seine arkastische Bemerkung galt wissenschaftlichen Untersuchungen: Seit 1993 wurden bei Mäusen mindestens 15 Gene identifiziert, die mit Aggressivität zu tun haben sollen, darunter ein Gen für die sogenannte NO-Synthase, also ein Enzym, das einen vielseitigen Neurotransmitter produziert. Raine kritisierte den Umkehrschluss, dass diese Gene auch beim Menschen existierten. Und doch sind Theorien, die von einer "angeborenen Aggressivität“ ausgehen nicht neu. Um ein Beispiel zu nennen: Der Psychoanalytiker Sigmund Freud Freud betrachtete menschliche Aggressivität als eine Komponente des Ich-Triebes. Somit erhärtet sich die Vermutung, dass bei der Entstehung von aggressivem Verhalten körperliche, großteils biochemische Prozesse ursächlich beteiligt sind.

Einige Hormone, etwa Androgene und insbesondere das männliche Geschlechtshormon Testosteron, begünstigen eine erhöhte Neigung zu aggressivem Verhalten. Der Neurotransmitter Serotonin spielt offenbar eine Rolle bei der Hemmung von aggressivem und riskantem Verhalten.

Apropos Gene: Ein Mensch kann genetisch bedingt besonders aggressiv oder friedlich veranlagt sein. So sind sich, Raines Kritik zum Trotz, die meisten Forscher einig, dass Aggressivität wie viele andere Charaktereigenschaften zu zirka 50 Prozent erblich bedingt ist. Körperliche Einflussfaktoren sind gewiss Mitverursacher, reichen aber wahrscheinlich nicht aus, um einem Menschen eine "Täter-Komponente“ zu verleihen. Und vor allem: Menschen, die verstärkt zu Aggressionen neigen, müssen nicht zwingend gewalttätig sein.

Das Fundament für spätere Gewaltneigungen stützt sich oft auf ontogenetische Faktoren - dazu gehören der natürliche Sozialisationsprozess und die familiäre Herkunft. Persönliche Erfahrungen, Erlebnisse, Frustrationen, Ängste und Vorbilder beeinflussen aggressives Verhalten ebenfalls in hohem Maße. Dabei hat Erziehung einen hervorzuhebenden Stellenwert. So wird die Neigung zur Aggression ähnlich wie jene zum Alkoholismus zumindest teilweise von Generation zu Generation weitergegeben.

Stress in der Kindheit prägt Hirnregionen

Unklar ist, ob dieser Generationsaspekt auf Vorbild und Erziehung im weitesten Sinne oder doch auf Vererbung beruht. Der Amerikaner Martin Teicher, Psychiater an der Harvard Medical School, berichtet von Untersuchungen, in denen sich zeigte, dass Hippocampus und Amygdala (das ist die Region im Gehirn, in der Gefühle verarbeitet werden) bei Personen kleiner sind, die in ihrer Kindheit misshandelt oder missbraucht wurden. Offenbar verändert schwerer Stress in der Kindheit die molekulare Organisation dieser Hirnregionen.

Angesichts dieser vielen, wissenschaftlichen Überlegungen, rückt die Frage, ob es den geborenen Täter gibt, in den Vordergrund. Lerntheoretiker sagen "Nein“. Sie halten gewaltfreies Verhalten grundsätzlich für möglich und beziehen sich in ihrer Erklärung für ausufernd aggressives Verhalten auf ein Imitationslernen.

Was wäre also zu tun, um den Wechsel von Aggression zu Aggressivität und zu Gewalt zu vermeiden, diesem vorzubeugen? Wenn Gewalthandlungen die Summe von komplexen Ursachen, Hintergründen und persönlichen Motiven sind, dann liegt der Umkehrschluss nahe: dass nämlich Eigenschaften einer stabilen Persönlichkeit, dass positive, vorherige Lernerfahrungen und die Wahrnehmung bestimmter, situativer Aspekte als entscheidende, der Gewalt entgegensteuernde Parameter der Prävention angesehen werden können.

Testosteron macht Politik

Von Karin Kneissl, Braumüller Lesethek 2012

200 Seiten, gebunden, € 22,90 (Kurz-Besprechung: s. u.)

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