Montessori

Wie faschistisch ist Montessori?

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Die italienische Ärztin und Bildungsreformerin Maria Montessori suchte die Nähe des Faschisten Benito Mussolini, um „eine neue Welt für einen neuen Menschen zu formen“. Eine historisch-kritische Einordnung zum 70. Todestag.

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Die italienische Ärztin und Bildungsreformerin Maria Montessori suchte die Nähe des Faschisten Benito Mussolini, um „eine neue Welt für einen neuen Menschen zu formen“. Eine historisch-kritische Einordnung zum 70. Todestag.

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Am 20. Januar 1926 schreibt die politikerfahrene Mittfünfzigerin dem von ihr bewunderten „Retter des Vaterlandes“ einen Brief, in dem sie ihm ihre Mitwirkung an seinem Werk anbietet: „Es ist mein Ziel, in den Schulen meines Vaterlandes eine Methode zu verbreiten, die [...] eine Antwort darstellt auf die höchsten Prinzipien und die tiefe Doktrin, die Ihre Eminenz sich als Fahnenträger und mächtiger Verteidiger zu seiner Aufgabe gemacht hat für die Erhebung und Wiederherstellung des Mutes unseres Volkes und die Größe unseres unsterblichen Vaterlandes.“

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Das Angebot wird umgehend angenommen. Kurze Zeit später trifft man sich zum ersten Mal persönlich. Er wird Ehrenvorsitzender ihrer Organisation, sie Ehrenmitglied seiner Bewegung. Schrittweise überträgt er ihr immer mehr Verantwortung für die Ausbildung der Lehrkräfte und den Unterricht in den Volksschulen des Landes. Ihre Pädagogik wird zum nationalen Pflichtprogramm.

„Säuberung“ der Schulen

Die Rede ist hier von der engen Zusammenarbeit der zu dieser Zeit schon weltberühmten Maria Montessori (1870-1952) mit Benito Mussolini (1883-1945), der wenige Jahre zuvor die Macht in Italien an sich gerissen hatte. Beiden nutzt dieses Bündnis unmittelbar. Er möchte nach der brutalen Ausschaltung der Opposition und der Abschaffung freier Wahlen seinem Faschismus ein freundlicheres Gesicht geben. Sie möchte ihr internationales Ansehen in nationalen Einfluss in der Heimat ummünzen, in der sie nach anfänglichen Erfolgen weitgehend unbeachtet geblieben war.

Wie sie im September des gleichen Jahres einem spanischen Journalisten anvertraut: „Dieser Zustand soll bis ins Unendliche angedauert haben, wenn nicht Herr Mussolini an die Macht gekommen wäre.“

Die enge Zusammenarbeit zwischen beiden hätte wohl nicht funktionieren können, wenn es nicht erhebliche Überschneidungsflächen beider Ansätze gegeben hätte. Montessori selbst zeigt sich fest davon überzeugt, „dass meine Methode mit dem Faschismus vereinbar ist“ (1931). Beide möchten eine „neue Welt für einen neuen Menschen“ (1932) schaffen.

Die triumphierende Rasse besteht aus weißen Menschen, deren Staturtyp eine Harmonie der Formen des Körpers aufweist.

Maria Montessori (1910)

Beide gehen davon aus, dass dafür Menschen von klein auf, ihrem biologischen „Bauplan“ entsprechend, geformt werden müssen. Das ist bei ihr nicht frei von rassistischen Untertönen: „Die triumphierende Rasse, d. h. diejenige, die nicht zugelassen hat, dass das Territorium ihres Reiches oder der Fortschritt ihrer Kultur begrenzt werden, besteht aus weißen Menschen, deren Staturtyp [...] eine Harmonie der Formen bei allen Teilen des Körpers aufweist.“

Demgegenüber betrachtet sie den „negroiden und mongoliden Typus“ als „minderwertige menschliche Rassen“ (1910). Für beide bildet das äußere Erscheinungsbild die innere Beschaffenheit des Menschen ab. In ihrer Pädagogischen Anthropologie (1910) beschäftigt sie sich zum Beispiel ausgiebig damit, wie man potenzielle Verbrecher an Haupt und Gliedern (Langfinger!) erkennen kann.

Bei beiden folgt daraus noch keine blutrünstige Verfolgung wie bei Hitler, sondern es genügt ihnen, „Minderwertige“ umzuerziehen, wenn das nicht gelingt, abzusondern und nach Möglichkeit an der Fortpflanzung zu hindern. Montessori tritt gar für eine „Hybridisierung“ der Rassen ein, aber nicht der kulturellen Vielfalt zuliebe, sondern um den optimalen Typus zu mendeln. Beide wollen die Kinder von klein auf den bisherigen Erziehungsmächten entziehen und in gleichgeschalteten Lebenswelten formen. Er gründet dafür außerschulisch faschistische Jugendverbände. Sie entwickelt strikte Regeln für die innerschulische Ausgestaltung von Lernumgebungen. Ihrer Meinung nach lässt sich beides gut miteinander „verknüpfen“ (1931).

Wenn Montessori dabei gleichwohl an der „Individualität“ des Kindes ansetzen will, dann nicht, um individuelle Vielfalt zu fördern, sondern um es effektiver zu „normalisieren“: „Es hat sich die interessante Tatsache gezeigt, dass das Kind, welche Eigenschaften es auch immer hatte und wie unterschiedlich sie auch waren, sich in einen einzigen Typ umwandelte und dabei diese früheren Eigenschaften verlor“ (1934). Auch Inklusion ist ihre Sache nicht. Sie will eine „radikale Säuberung“ der Schulen, denn „wenn nämlich intellektuell und moralisch Schwachsinnige, von Infantilismus betroffene Kinder [...] unter gesunde Kinder gemischt werden, können wir nicht sagen, dass es wirklich Schulen für normale Kinder gibt, wo der Pädagogik ein freies Fortschreiten in der Kunst gestattet ist, die besten Kräfte der Menschheit zu entwickeln” (1910).

Der Hund ist begierig darauf, Befehle zu erhalten, und läuft mit vor Freude wedelndem Schwanz, um zu gehorchen. Die dritte Stufe des Gehorsams des Kindes ähnelt ungefähr diesem Verhalten.

Maria Montessori (1949)
Kindergarten

Besonders sympathisch dürfte Mussolini schließlich die starke Betonung von Gehorsam und Hingabe in Montessoris Pädagogik gewesen sein. Ihr entscheidendes Hilfsmittel dafür ist die „Polarisation der Aufmerksamkeit“, die vorbehaltlose Hingabe an die hier und jetzt gestellte Aufgabe. Sie zielt damit auf „Disziplin, Ordnung, Ruhe, Gehorsam, moralisches Feingefühl, kurz all das, was ein sehr ausgeprägtes Anpassungsvermögen auszeichnet“ (1931).

Sachdienliche Konzentration verselbständigt sich zu reinem Gehorsam: „Womit können wir dieses natürliche und wundervolle Phänomen vergleichen? Vielleicht auf einem anderen Niveau mit dem Instinkt des Hundes, der seinen Herrn liebt, und dem Gehorsam, mit dem er seinen Willen erfüllt. […] Der Hund ist begierig darauf, Befehle zu erhalten, und läuft mit vor Freude wedelndem Schwanz, um zu gehorchen. Die dritte Stufe des Gehorsams des Kindes ähnelt ungefähr diesem Verhalten“ (1949). „Lektionen der Stille“ sollen schon bei Kleinkindern diese individuelle in eine kollektive Gefolgschaft „wie ein Mann“ überführen (1909). Nicht umsonst ist „Stillgestanden“ in allen Armeen dieser Welt der Anfang zur Ausrichtung des Korpsgeistes.

Jeff Bezos als Montessorianer

1933 zerbricht das im Vergleich zu Montessoris sonstigen Partnerschaften schon sehr langlebige Bündnis. Montessori ist mit Personalentscheidungen des zuständigen Bildungsministeriums nicht einverstanden. Mussolini kann oder will ihr nicht helfen. Wie schon früher gehandhabt, zieht sie sich daraufhin demonstrativ von allen Funktionen zurück und beschränkt sich fortan damit, vom Ausland aus das internationale Wachstum ihrer Bewegung zu kontrollieren.

Dies hindert sie nicht, Mussolini 1934 bei einem internationalen Kongress in Rom ausgiebig zu loben und ihn weiterhin anzuschreiben. Antifaschistischer Widerstand sieht wohl anders aus. Dennoch wird 1936 die Montessori-Akademie in Rom aufgelöst. Ihr passiert, was in einem ähnlich gelagerten Fall den Waldorfianern im nationalsozialistischen Deutschland widerfährt.

Trotz jahrelanger Beschwörung einer Gesinnungsgenossenschaft vertragen totalitäre Köpfe letztendlich keine anderen Götter neben sich. Beide Bewegungen – Montessori und Waldorf – werden diesen Schlusspunkt nutzen, um sich nach 1945 als Opfer des Faschismus zu inszenieren.

Wenn man Montessori-Gläubige mit den durch Archivstudien untermauerten Verstrickungen ihres Idols konfrontiert, begegnet einem meist ungläubiger Widerwillen. Es fällt schwer einzusehen, dass Begriffe wie Individualität, Freiheit oder Frieden bei ihr systematisch etwas ganz anderes bedeuten, als eine nach 1968 geprägte liberale Pädagogik hineinlesen will.

Offizielle Ausbildungen und Selbstbeschreibungen begnügen sich gern mit kursorischen, oft grob irreführenden Hinweisen, wenn sie das Thema nicht ganz aussparen. Nur so kann man sich überaus erfolgreich, aber entgegen Buchstaben und Geist des Originals anti-rassistisch, inkludierend und kindgerecht gebärden. Der Kritik wird vorgeworfen, zeitgeistige Zitate aus dem Zusammenhang zu reißen.

Aussagen blieben unwiderrufen

Allerdings handelt es sich bei deren wichtigster Quelle, der Pädagogischen Anthropologie von 1910, um Montessoris wissenschaftliches Hauptwerk, dessen Kernaussagen späterhin zwar gelegentlich nuanciert, jedoch von ihr nie grundlegend revidiert, geschweige denn widerrufen werden. Nach 1945 unterstreicht sie ausdrücklich, dass Ansatz und Prinzipien ihrer früheren Schriften gültig bleiben, und noch in einem ihrer allerletzten Beiträge entwirft sie die Utopie einer „Höherzüchtung des Menschen”, angeleitet durch ein „Ministerium der menschlichen Rasse“ (1951).

Damit stellt sich die Frage, ob man eine pädagogische Praxis, unabhängig von der ihr Gestalt und Richtung gebenden Theorie, gutheißen kann. Immerhin war es von Anfang an ein Kennzeichen dieser Pädagogik, jenseits der Methoden und des Anfangsunterrichts keinen eigenen Lehrplan zu entwickeln und sich insofern mit jedweder politischen Couleur von ganz links bis ganz rechts zu vertragen. Nach Montessori Beschulte sind ebenso wenig durchgängig normalisiert, wie alle Waldorfschülerinnen und -schüler anthroposophisch denken.

Gott sei Dank wirkt solche Pädagogik nicht annähernd so totalitär, wie sie gedacht sein kann. Das bedeutet aber nicht, dass deren pädagogisches Programm folgenlos bleibt, sondern nur, dass sich allfällige Folgen individuell nicht eindeutig zuordnen lassen. Man ist also auf Fallbeispiele und systemische Erfahrungen angewiesen.

Individualität, Freiheit oder Frieden bedeuten in Montessoris Schriften etwas ganz anderes, als es eine nach 1968 geprägte liberale Pädagogik hineinlesen will.

Ein in diesem Sinne gleichwohl bezeichnender Zufall mag sein, dass der zurzeit potenteste Sponsor der Montessori-Bewegung jemand ist, der selbst auf eine Montessori-Schule gegangen ist und deren Prinzipien so erfolgreich in betriebswirtschaftliche Abläufe übersetzt hat, dass er auf dem Rücken oft miserabel entlohnter Beschäftigter zu einem der reichsten Männer der Welt aufsteigen konnte: Jeff Bezos. Bei Amazon sorgt eine rigide „vorbereitete Umgebung“ für eine verhaltenssteuernde „Polarisation der Aufmerksamkeit“, in der ununterbrochen „Disziplin, Ordnung, Ruhe, Gehorsam“ gefordert sind.

Die Beschäftigten werden ständig überwacht. Anläufe zu einer Mitbestimmung durch Betriebsräte oder Gewerkschaften werden mit aller Macht bekämpft. Wer sich nicht fügt, wird gefeuert. Es passt, dass auch andere Spitzen der digitalen Ökonomie wie Bill Gates, Mark Zuckerberg, Airbnb-Gründer Brian Chesky sowie Googles Larry Page und Sergey Brin Montessori-Alumni sind.

Privilegierte Kinder unter sich

Kein Zufall ist, dass Montessori-Pädagogik weltweit als Mittel für einen pädagogisch verbrämten systemischen Rassismus dient. Montessori-Ausbildungen und Ausstattungen kosten viel Geld. Montessori-Schulen sind daher in aller Regel nur jenen zugänglich, die sich die damit verbundenen Zusatzkosten leisten können.

Aber auch in Regelschulsysteme integriert, dienen Montessori-Klassen dazu, die „feinen Unterschiede“ (Bourdieu) zu reproduzieren. Die Kinder der gebildeten Kreise verkehren dort mit ihresgleichen, und die Schmuddelkinder mit ihren sozialen, kulturellen oder körperlichen „Defekten“ bleiben – wie von Montessori gewünscht – meist außen vor.

So wird eine ursprünglich für die Therapie benachteiligter Kinder entwickelte Methode zum scheinbar unschuldigen Mittel der Segregation zugunsten ohnehin schon Privilegierter und zugleich zu einer nachgerade unerschöpflichen Einnahmequelle für eine Bewegung, die alles daran setzt, ihr Markenzeichen reinzuhalten und zu monopolisieren – ganz wie es Maria Montessori gewollt hat.

Genügen gute Absichten?

Aus Erfahrung weiß ich, dass eine Kritik wie die hier skizzierte, bei Montessori-Aposteln bestenfalls Kopfschütteln, schlimmstenfalls wütende Abwehrreaktionen hervorrufen wird. Man wird behaupten, die je eigene Theorie oder Praxis sei gänzlich frei von den Schattenseiten des Programms, und sich weiterhin auf die Lichtgestalt Montessoris berufen, so als sei ihr Beitrag zu Faschismus, Rassismus und der Ausgrenzung Andersartiger für die Bewertung ihres Ansatzes nebensächlich.

Ich zweifle nicht an den guten Absichten derer, die das tun. Aber genügt das? Das ändert ja nichts an der anthropologischen Gleichschaltung („Normalisierung“) als Kern ihrer Theorie und Praxis und an deren totalitären Ambitionen, die sie in Mussolinis Lager geführt hatten. Zwar war Mussolini kein Hitler, aber Wegbereiter und Namensgeber des Programms, das Hitler und Konsorten bis Auschwitz trieben.

Ich muss gestehen, dass mich solche Scheinheiligkeit an die Argumentation vieler Lehrkräfte und Eltern von Klassenkameraden in meiner Jugend erinnert: Hitler, so hieß es, wäre doch eigentlich gut für die Deutschen gewesen, hätte er bloß „das mit den Juden“ nicht gemacht. Wäre Montessoris Erbe wirklich unbefleckt, wenn sie „das mit Mussolini“ nicht gemacht hätte?

Der Autor war Professor für Bildungswissenschaft an der Universität Wien und ist nun Professor an der Universität von Südost-Norwegen.

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