"... wie fragil der Mensch ist"

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Dem ungarischen Schriftsteller péter esterházy wird dieses Jahr auf der Frankfurter Buchmesse der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen. Im furche-Interview spricht er über Gesellschaft und Politik in seinem Land und darüber, was Literatur für ihn bedeutet.

Die Furche: Was bedeutet der deutsche Sprachraum für Sie und für die ungarische Literatur?

Péter Esterházy: In der Tat wird unsere Literatur fast immer via Deutschland bekannt. Gerade Sándor Márai ist eine Ausnahme, denn er ist zuerst in Italien bekannt geworden. Sonst geht die ungarische Literatur durch dieses Tor in die Welt hinein. Und das ist kein Zufall, denn die Deutschen haben ein wirkliches Interesse für das Nicht-Deutsche. Ich glaube, das hat auch mit der Angst vor der eigenen Provinzialität zu tun. Große Länder können sehr leicht provinziell sein. Weil es eben eine so große Provinz ist, sind sie so ruhig dabei. Ein Franzose oder ein Engländer glaubt, dass er keinen anderen braucht. Gerade habe ich gehört, dass in England die übersetzte Literatur drei Prozent ausmacht - aus allen Sprachen zusammen. In Deutschland sind es, glaube ich, 40 Prozent.

Die Furche: Sie haben in Ihrem Buch "Verbesserte Ausgabe" geschrieben: "Faschismus und Kommunismus haben uns tiefer durchdrungen, als wir uns das einzugestehen bereit sind." Ist in den letzten 15 Jahren ein Fortschritt passiert im Umgang mit der Vergangenheit, oder wird das erst nach einer Generation unbefangen möglich sein?

Esterházy: Ich sehe nicht, dass es da eine neue Generation gäbe, die unangenehme Fragen stellen würde, sondern gerade das Gegenteil: dass die neue Generation mit den alten Lügen arbeitet. Es scheint, dass das ganze Land mitmacht mit dieser Selbstlüge - der typische osteuropäische oder Kleinland-Reflex: dass man sich als Opfer sieht. Man sieht zur Zeit nur die Geschichte des anderen: Du warst ein Verräter, du warst ein Kommunist, du aber warst ein Faschist! Aber die Frage ist: Was bin ich? Was sind wir? Und diese Frage wollen wir zur Zeit nicht stellen.

Die Furche: Ist das deswegen schwieriger, weil man mit dem Kádár-Regime eher einverstanden sein konnte als etwa mit dem Husak-Regime in Prag?

Esterházy: Man war mit dem System nicht einverstanden, aber man hatte eine zynische Beziehung dazu. Es gab dieses Bonmot: "Es gibt keine Freiheit, aber es gibt Freiheiten." Die jetzige Lüge besteht darin, dass der eine Teil sagt, es war Freiheit - das ist die linke Lüge. Und die rechte Lüge lautet: Es gab nicht einmal kleine Freiheiten. Man hätte vielleicht glauben können, dass gerade diese Soft-Diktatur, die wir gehabt haben, die postkommunistische Ära leichter machen würde. Aber das ist eben nicht so, denn man kann sich sehr schwer distanzieren; man war zwar nicht identisch mit diesem System, aber auch nicht weit genug davon entfernt, denn jeder hat ein bisschen mitgemacht. Gyula Horn (ehemaliger postkommunistischer Ministerpräsident; Anm.) hat sicher andere Kompromisse gemacht als ich, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich außerhalb des Systems war oder dass ich keine Kompromisse gemacht habe, denn die Gesellschaft lebte in diesem Kompromiss.

Die Furche: Sie selbst haben diese Fragen durch die Spitzelberichte Ihres Vaters eingeholt. In der "Verbesserten Ausgabe" steht: "Das ist ein Tag, unter dessen Schatten ich seither und für alle Zeiten lebe." Gilt das noch?

Esterházy: Einerseits gibt es diesen Schatten, und das ist auch eine Geschichte, die nie zu Ende geht. Aber es ist nicht schlimm. Es war auch schon damals nicht so schlimm, was das Persönliche betrifft. Deswegen ist es schwer, darüber zu sprechen, denn nur von dem ganz Persönlichen zu sprechen, ist nicht interessant. Es ist nicht interessant, dass ich eine unverstörte Beziehung zu meinem Vater habe oder dass ich glaube, dass ich keinen besseren Vater brauche usw. Oder dass wir Brüder jetzt mehr wissen über seine Einsamkeit. Aber für mich ist das wichtig. Und man sieht auch, wie fragil der Mensch ist. Ich spreche darüber nicht deswegen ungern, weil es mir schwer fällt, sondern weil ich eben diese Zäsur von Privatem und Nicht-Privatem beim Sprechen nicht gut einhalten kann - und dann beginne zum Beispiel darüber zu plaudern. Sonst ist es vielleicht nicht sehr niveauvoll, aber legitim, über ein Buch zu plaudern. Aber in dem Fall wäre das ein Fehler. Darum würde ich darüber lieber schweigen.

Die Furche: Aber Sie haben da doch etwas beschrieben, was vermutlich viele Menschen in Ungarn erleben: Dass sie auf einmal ihre Familiengeschichte, ihre Geschwister-Beziehungen, ihre Kindheit in einer neuen Weise sehen und ordnen müssen.

Esterházy: Ja, das ist eine typische ostmitteleuropäische Situation, dass die Geschichte immer wieder eingreift - ganz unmittelbar in den Montag und Dienstag. Theoretisch kann ein Buch in dieser Situation eine gute Wirkung haben, denn es geht nicht darum, dass jeder seine Geschichte - wie bei einer Beichte - öffentlich erzählen sollte. Das wäre zu viel, das kann eine Gesellschaft nicht - und der Mensch auch nicht. Aber Literatur kann manchmal so wirken, dass jemand seine Geschichte erzählt, und dadurch musst du deine Geschichte nicht erzählen. Aber von deiner Geschichte zu schweigen, bedeutet nicht, das man seine Geschichte von sich weghält, sondern dass man sie kennt. Man kann nur darüber schweigen, was man kennt.

Die Furche: Imre Kertész hat Sie im Nachwort zur Neuausgabe Ihres Buches "Hilfsverben des Herzens" dadurch charakterisiert, dass die Bedeutung der Sprache bei Ihnen größer ist als die der Handlung. Heißt das: Die Wörter sind wichtiger als der Absatz?

Esterházy: Zum Absatz habe ich auch Beziehungen, nicht aber zu den Gedanken. Ich glaube nicht, dass Literatur mit Gedanken arbeitet. Wenn man Gedanken hat, soll man nicht Romane schreiben, sondern soll Philosophie machen oder ein Lehrer oder Professor sein. Wenn ich einen wichtigen Gedanken habe, gehe ich so lange auf und ab, bis ich ihn vergesse. Denn das ist auch eine Versuchung: wichtige, kluge Gedanken hineinzustopfen in einen Roman.

Die Furche: Thomas Bernhard hat ja geschrieben: "Wenn ich am Horizont eine Geschichte sehe, dann schieße ich sie ab." Sie würden das wohl über den Gedanken sagen.

Esterházy: Ja, genau! Bei den Geschichten wäre ich nicht so streng. Ich würde mich danach sehnen, einmal eine Geschichte zu haben. Das schönste wäre, einen Plot zu haben, das ist mein innigster Wunsch.

Die Furche: In der "Verbesserten Ausgabe" schrieben Sie: "Bisher hatte ich Glück, gnadenvoll fiel ich von einem Buch ins nächste." Wird Ihnen dieses Glück jetzt wieder zuteil?

Esterházy: Ich habe mit 25 angefangen, Tag für Tag zu arbeiten, und das ging so, bis ich die "Verbesserte Ausgabe" beendet hatte - also wirklich von einem Buch zum anderen. Das ist Glück, das ist Gnade. Und ich musste nachdenken, was es bedeutet, wenn ich sage, dass ich mit "Harmonia caelestis" zu einem Ende gekommen bin. Bedeutet das, dass ich nicht mehr über die Familie schreiben kann oder soll? Dass ich das Wort "Vater" nie mehr schreiben kann? Oder was bedeutet das? In diesem Sommer war ich sechs Wochen in der Toskana. Dort habe ich für mich eine gute, funktionierende Antwort gefunden - in dem Sinn, dass ich mich mit meinen Möglichkeiten ziemlich frei fühlen kann. Und ich habe dadurch auch mit einem Text angefangen. Also, jetzt bin ich schon wieder an der Arbeit.

Die Furche: Aber ein Ende ist noch nicht abzusehen?

Esterházy: O nein, ein Ende ist leider nie abzusehen, auch dann nicht, wenn man schon 99 Prozent der Arbeit gemacht hat. Das ist das Unfaire beim Romanschreiben, dass man bis ganz zum Schluss alles zerstören kann. Es ist nicht so: Wenn man schon die Hälfte hat, dann ist es nur mehr Arbeit. Es ist nie nur Arbeit. Nie! Bis zum letzten Wort kann es vorkommen, dass man alles wegschmeißen muss.

Das Gespräch führte Cornelius Hell.

Der Graf als Dichterfürst

International bekannt wurde der 1950 in Budapest geborene Péter Esterházy mit seiner "Kleinen ungarischen Pornographie". Der Titel ist hinterlistig, denn erstens sind die Anfangsbuchstaben des ungarischen Originals identisch mit der Abkürzung der Kommunistischen Partei Ungarns, und zweitens findet man darin keine schlüpfrigen Geschichten, sondern nur die alltäglichen Perversionen des realsozialistischen Alltags der 1980er Jahre. Spielerisch und witzig hat sich Esterházy nicht nur mit dem Sprachschrott der Politik auseinandergesetzt, sondern sich auch andere Texte "ausgeborgt": Gasttexte von Bohumil Hrabal (in "Das Buch Hrabals", einer Hommage an den tschechischen Schriftsteller Bohumil Hrabal), Imre Kertész ("Das Protokoll") oder aus längst vergangenen Zeiten (in "Donau abwärts"). Neu aufgelegt wurde in diesem Jahr "Hilfsverben des Herzens". Als Esterházys Hauptwerk gilt "Harmonia caelestis", wo er die Geschichte seiner Familie Revue passieren lässt und seinem Vater ein Denkmal setzen wollte. Kurz vor Abschluss des Buches wurden ihm vom ungarischen "Amt für Geschichte" vier Dossiers seines Vaters ausgehändigt - dieser hatte 1958-80 regelmäßig Berichte an die ungarische Geheimpolizei geschrieben. In dem 2003 auf Deutsch erschienenen Band "Verbesserte Ausgabe" hat Esterházy Passagen aus den Berichten des Vaters und sein eigenes Tagebuch aus der Zeit der Enthüllung veröffentlicht. - Der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wurde ihm zuerkannt, weil er als weithin vernehmbare Stimme die Zerstörung des Menschen durch Terror und Gewalt und zugleich dessen "Wiederauferstehung" mit Trauer und Ironie beschreibe.

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