Wie hältst du's mit der POSTMODERNE?

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Wer fürchtet sich vor "Gender"? In den Debatten um Geschlechterfragen offenbart sich vor allem eines: Die Angst vor dem Verlust einer vielleicht letzten Ordnung.

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Wer fürchtet sich vor "Gender"? In den Debatten um Geschlechterfragen offenbart sich vor allem eines: Die Angst vor dem Verlust einer vielleicht letzten Ordnung.

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Gender - die neue Häresie?

Nimmt man diverse Äußerungen hochrangiger katholischer Entscheidungsträger und Denker, dann repräsentiert der Begriff "Gender" eine Ideologie, die dem christlichen Menschenbild diametral entgegensteht. Selbst Papst Franziskus warnt davor. Demgegenüber melden sich aber auch katholische Stimmen zu Wort, die für einen differenzierten Gender-Diskurs und gegen Verteufelungen eintreten.

Redaktion: Otto Friedrich und Doris Helmberger

Was haben der Papst und Andreas Gabalier gemeinsam? Beide fürchten sich vor Gender. Was bei Papst Franziskus ein wenig verwundert, scheint er sich doch sonst vor nicht allzu viel zu fürchten. Und dennoch, in Kapitel 56 von Amoris laetitia finden wir die Warnung vor dieser "Ideologie", welche über den Umweg von Erziehungsplänen und Gesetzgebung gar "die anthropologische Grundlage der Familie aushöhlt"(vgl. nächste Seite).

Wer genauer hineinliest und hinhört, ob bei neuen "Volks-Rock'n'Rollern" oder alten und jungen Klerikern, erkennt recht schnell, was an Gender wirklich Angst macht: Der Verlust einer Ordnung. Der vielleicht letzten und vor allem intimsten Ordnung, die sie von klein an kennen, in der sie sich selbst aufgehoben sehen und die sie als Rückvergewisserung und Leitplanke ihrer scheinbar so natürlichen Geschlechtsidentität zu brauchen scheinen. Gerade jetzt, wo alle anderen Orientierungslinien verblasst, alle ideellen Heimaten verloren sind, links und rechts nicht mehr nur durch einen Buchstaben wie einst bei Ernst Jandl verschoben, sondern aufgehoben sind, bleibt als einziger Fixpunkt zu wissen, "ob man Männlein oder Weiblein ist", wie der Volksmund es auf den Punkt bringt. Wer dies nicht weiß, so die grundsätzlich in der Negation gebrauchte Redewendung, hat jegliches Koordinatensystem seiner Existenz verloren oder noch gar nicht gefunden. Die Geschlechtszugehörigkeit ist jene Ordnung, die zwangsläufig am eigenen Leib erfahren wird, ihre Infragestellung ist eine Infragestellung der Identität auf der unmittelbarsten Ebene des prärational Körperlichen. Die Frage nach Männlein oder Weiblein gilt vielen als die "natürlichste" Ordnung und damit selbst bei praktischen Agnostikern als letzter Rest einer Schöpfungsordnung, ob ihr Schöpfer nun Gott oder Natur genannt wird.

Umso schockierender ist die Erkenntnis, dass auch und gerade die scheinbar natürlichste Ordnung der Welt im Lauf der Geschichte und in den unterschiedlichen Kultur- und Religionssystemen schon vielfach anders gedacht und praktiziert wurde: z.B. Androgynie als ideale Ordnung und Männlein und Weiblein als Symptom der Verwirrung (Gnosis); mehr als zwei Geschlechter (verschiedene asiatische Kulturen); oder aber das Modell vom einen, männlichen, Geschlecht, von dem das andere, weibliche, nur eine unvollkommene Spielart darstellt. Falls Ihnen letzteres irgendwie bekannt vorkommt: Dieses Modell vertrat neben Aristoteles und einem großen Teil der antiken Medizin auch der in der christlichen Theologie maßgebliche Thomas von Aquin.

Geschlecht ist gerade im Christentum eine äußerst ambivalente Kategorie. Nicht nur, dass traditionelle Geschlechterrollen bereits in den Evangelien mehrfach in Frage gestellt werden (Männer, die nicht heiraten, und Frauen, die mit diesen Männern einem exaltierten Rabbi hinterherziehen), ja vielmehr steht die "Natürlichkeit" des geschlechtlichen Körpers selbst zur Diskussion. Fluide waren sie, die gottgeschaffenen Körper Adams und Evas im Paradies, "wie Lichtstrahlen im Wasser", ohne die heute bekannten Geschlechtsmerkmale als Differenzkriterien, so etwa der Kirchenlehrer Gregor von Nyssa. Ja selbst die Frage, ob das weibliche Geschlecht nicht eine vorübergehende Erscheinung nach dem Sündenfall sei, die im Himmel wieder dem männlichen Ideal zugeführt werde, war in Diskussion.

Als Mönche verkleidete Jungfrauen

Und im Erdenleben dazwischen sind die Viten heiliger Frauen und Männer anschauliche Beispiele dessen, was undoing gender (vgl. S. 5) im umfassenden Sinn meint, wenn gerade auch der Körper als Differenzkriterium umgeschrieben und seine sexuelle und gesellschaftliche Eindeutigkeit im frommen Eifer überschrieben wird. Männlein in Lederhose und Weiblein im Dirndl, sprich traditionelle Geschlechterrollen, sind im christlichen Narrativ bis zum Ende des Mittelalters nur eine Option für jene, die es nicht anders schaffen. Die spirituelle Elite erhebt die Subversion in blutig-farbigen Erzählungen von schönen, zwischen erträumter Maskulinität und femininer Rollenverweigerung oszillierenden Märtyrerinnen, von als Mönchen verkleideten Jungfrauen und von in mehrfacher Hinsicht transzendierter Maskulinität zum Ideal. In der Tat "höhlt dies die anthropologische Grundlage der Familie aus" - Familie ist im christlichen Narrativ bis zu Luthers Hausvaterideologie nämlich kein kuscheliger Hafen sondern der Ort, von dem man und frau flieht, um heilig zu werden.

Religion, so zeigt ein differenzierter Rundumblick, kann beides: Sie kann die binären Geschlechterrollen (Männlein und Weiblein) derart in einer verbindlichen Erzählung begründen, dass sie sakrosankt und in Folge zum Problem für eine säkulare Gesellschaft mit hohem Veränderlichkeitsgrad werden. So zu beobachten im Umgang mit der biblischen Schöpfungserzählung, die als Lehrbuchbeispiel für Roland Barthes' Naturalisierungsthese gelten kann: Man enthebt die Erzählung ihrem sozialhistorischen Kontext, versieht sie mit dem Etikett "göttlich" und macht die dort beschriebenen Geschlechterrollen so zur überzeitlichen Natur des Menschen. Dass hier die katholische Theologie offenbar ihre eigenen Errungenschaften der Exegese nicht ernst nimmt, sondern in eine neomythische ad litteram-Interpretation verfällt, versetzt sie zwar in die Gesellschaft anderer konservativer Zugänge zu heiligen Texten - realitätstauglicher macht es sie nicht.

Religion kann aber auch das binäre Modell einer meist zu Gunsten eines Geschlechts erstarrten Gesellschaft unterlaufen helfen und alternative, neue Erzählungen anbieten. Dies gilt nicht nur für das Christentum, das es unter den monotheistischen Religionen hier am weitesten gebracht hat, sondern erst recht für polytheistische Religionssysteme, die bereits auf der Ebene der Gottheiten eine für europäische Begriffe verwirrende Vielfalt an Modellen bereit halten.

Gender Trouble: Der Titel des Werks von Judith Butler, die in kirchlichen Dokumenten - wie früher der Teufel -nicht einmal namentlich genannt werden darf, führt uns direkt zur einleitenden Frage zurück: Was fürchten der Heilige Vater und Andreas Gabalier, wenn sie sich vor Gender fürchten? Gleichgeschlechtliche Ampelpärchen? Männer in Frauenkleidern mit Brüsten und Bart? Mädchen, die mit Waffen statt mit Puppen spielen? Konkurrenz am Arbeitsmarkt? (beim Papst noch unwahrscheinlicher als in der Brachialvolksmusik). Es ist die Irritation der Uneindeutigkeit des scheinbar Eindeutigen, die verwirrende Mehrdeutigkeit, wo es bisher in ihrer Wahrnehmung nur m oder f zur Auswahl gab, so wie in den Nahversorgern der 1970er-Jahre, wo man(n) sich nur zwischen Fanta oder Sprite entscheiden musste und bei Toilettenpapier gar nicht, weil nur eine Sorte vorhanden war. Diese Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit klarer Grenzen und begrenzter Horizonte verrät ein Satz aus eben diesem Anti-Gender-Kapitel in Amoris laetitia, der mit Geschlecht und Geschlechtern an sich gar nichts zu tun hat: "Die menschliche Identität wird einer individualistischen Wahlfreiheit ausgeliefert, die sich im Laufe der Zeit auch ändern kann."

Dem Papst wohlgesinnte Kollegen verteidigen besagte Passage, die Gender zur neuen Häresie macht, gerne mit dem Argument, sie sei ein Zugeständnis an Bischöfe aus dem ehemaligen Ostblock. In der Tat scheint dort der Klerus das Vakuum, welches der Kommunismus als ideologischer Gegner hinterlassen hat, mit Gender als neuem Kampfbegriff zu füllen, was auch die Titulatur dieses komplexen Begriffs als "Ideologie" sogar in Amoris laetitia erklären würde. Ist Gender als Ausdruck veränderbarer individueller Wahlfreiheit demnach die Konsequenz aus dem Zusammenbruch des Kommunismus, jener Ideologie, die sich durch eine Absage an die Wahlfreiheit und das Konzept des mündigen Individuums auf theoretischer wie praktischer Ebene (Stichwort: Toilettenpapier) auszeichnete? Lehramtliche Schreiben sind bekanntlich intentional ironiefrei.

Ewige, binäre Ordnungen?

Gender als Theorie von der Konstruiertheit der Geschlechterrollen und Infragestellung eines deterministischen Naturbegriffs sowie als Praxis der Anerkennung pluraler Konzepte von Begehren und sexueller Identität ist für die Religion offenbar die Gretchenfrage nach dem Umgang mit der Postmoderne, oder, katholisch gesprochen, den Zeichen der Zeit. Gerade für das Christentum stellt sich die Frage angesichts der eigenen Geschichte, die nicht unwesentlich eine Geschichte der Subversion tradierter Ordnungen, auch der Geschlechter, ist, welche Art von Religion es sein will. Eine, welche die Wandelbarkeit und oft widersprüchliche Pluralität der Wirklichkeit bis hinein in das einzelne Individuum anerkennt und mit diesen konkreten, veränderlichen Menschen arbeitet, oder eine, die ewige binäre Ordnungen postuliert nach dem Motto "umso schlimmer für die Wirklichkeit"(Friedrich Engels).

Für Christinnen und Christen gilt bekanntlich: "Fürchtet euch nicht!"(Lk 2,10), schon gar nicht vor der Wirklichkeit. Bischöfe, Päpste und Volksmusiker inklusive.

Die Autorin ist Professorin f. Religionswissenschaft an der Kath.-Theol. Fakultät Graz

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