"Wie kannst du hier überhaupt leben?"

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Ruth Steiner ist Tochter jüdischer Emigranten - und lebt heute in Wien, der Stadt ihrer Eltern. Die Grenzgängerin zwischen Judentum und Christentum bewahrt gerade aufgrund der Erfahrung der Schoa ihre jüdische Identität.

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Ruth Steiner ist Tochter jüdischer Emigranten - und lebt heute in Wien, der Stadt ihrer Eltern. Die Grenzgängerin zwischen Judentum und Christentum bewahrt gerade aufgrund der Erfahrung der Schoa ihre jüdische Identität.

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Vor genau 70 Jahren wurde Ruth Steiner als Tochter jüdischer Emigranten in Manila geboren. Ende der 1950er-Jahre kam sie nach Wien zur Schule - und wurde Christin. Später war sie unter anderem Generalsekretärin der Katholischen Aktion Österreich. Sie ist eine Pionierin der christlich-jüdischen Verständigung.

DIE FURCHE: Wie hat Sie die Erfahrung der Schoa geprägt?

Ruth Steiner: Alle Freunde meiner Eltern waren Opfer der NS-Judenverfolgung. Ich habe ununterbrochen gehört, was passiert ist. Ein Bekannter meiner Eltern, der nicht in Österreich lebte, hat zum Beispiel gesagt: Er würde etwa nie nach Israel fliegen, wenn er über deutsches oder österreichisches Gebiet fliegen müsste. Von diesen Geschichten bin ich sehr stark geprägt worden. Meine Eltern waren Mitglieder der Kultusgemeinde, aber nicht religiös. Für sie war das Judentum eine Schicksalsgemeinschaft. Sie waren stolz, Juden zu sein.

DIE FURCHE: Und für Sie ...

Steiner: ... für mich auch. Meine jüdische Identität ist etwas Wesentliches für mich. Ich würde nie das Christentum vernachlässigen, aber ich merke, dass die jüdische Identität immer stärker wird.

DIE FURCHE: Sie sind Christin geworden. Wie war das möglich nach diesen Erfahrungen?

Steiner: Ich bin 1959 ins Internat der katholischen Neulandschule nach Wien gekommen. Ich bin zur Kultusgemeinde gegangen, aber 1959 gab es sehr wenige Juden, und die waren sehr orthodox. Ich habe mich nicht wirklich wohlgefühlt. Und da ich ein sehr spirituell denkender Mensch bin, habe ich gesucht, wo ich mich besser integrieren kann. Als ich einem Priester erzählt habe, Christin werden zu wollen, meinte der, ich würde meiner Familie damit viel antun. Ich habe auch gezögert, weil mein Vater so dagegen war. Aber ich habe für mich gesehen: Ich kann als Christin meine Spiritualität leben, ohne mein Judentum aufzugeben. Letztlich hat mein Vater das akzeptiert.

DIE FURCHE: Sind Sie jetzt mehr Christin oder mehr Jüdin?

Steiner: Ich bin Christin, aber ich bin stolz auf meine Herkunft. Ich gehe jeden Freitagabend in die Synagoge und feiere die jüdischen Feiertage, und ich gehe am Sonntag zur Messe. Beides ist für mich wesentlich.

DIE FURCHE: Sagen dann aber nicht die Christen: "Du bist keine richtige Christin", und die Juden: "Du bist keine richtige Jüdin"?

Steiner: Ich werde sowohl von Juden als auch von Christen kritisiert. Aber viel mehr Kritik kommt von Juden, die hier zu Besuch sind und sagen: Wie kannst du in diesem Land hier überhaupt leben?

DIE FURCHE: Ist das Gedenken an die Novemberpogrome konkret eine Sache der Christen oder der Juden?

Steiner: Eindeutig der Christen.

DIE FURCHE: Warum?

Steiner: Die Juden sitzen in einer Ecke und weinen. Eine Bekannte erzählt mir immer wieder die Geschichte, wie ihr Vater am 9. November 1938 von der Gestapo geholt wurde. Er hatte schwarze Haare. Als er am Abend entlassen wurde, waren die Haare weiß. Es ist soviel passiert, das man nicht "aufarbeiten" kann.

DIE FURCHE: Was sollten Christen rund um diesen Tag tun?

Steiner: Erinnern. Gedenken. Und das "Nie wieder!" propagieren.

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