Wie Vorbilder wirken - und ins Wanken geraten

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Gene oder Umwelt? In dieses Schema scheinbar unabhängiger Prägekräfte wurde lange Zeit die kindliche Entwicklung eingeordnet. Heute weiß man, dass diese Sphären eng zusammenwirken: Soziale Erfahrungen können die Genregulation beeinflussen, sie können etwa Stressgene ein- oder ausschalten und die Ablesbarkeit von Anti-Stressgenen langfristig verändern. "Der Körper macht aus Psychologie Biologie“, bringt der Freiburger Neurobiologe und Psychotherapeut Joachim Bauer diese Wechselwirkung auf den Punkt.

Zudem wirken Bezugspersonen wie Eltern oder Lehrerinnen und Lehrer über Spiegelneuronen auf Kinder regelrecht "ansteckend“: Zeigen sie Empathie und gehen sie mit dem Kind "in Resonanz“, so kommt es zu (unbewussten) Imitationshandlungen. "Das kann so weit führen, dass ein Erwachsener vom Kind eine Vision entwickelt, das Kind diese wahrnimmt und sie im Sinne einer self-fulfilling prophecy erfüllt“, so Bauer. Entsprechend wichtig seien in der pädagogischen Beziehung positive Emotionen und ehrliches Feedback durch Vorbilder: "Das Kind sucht nach Resonanz und nach Antworten auf drei wesentliche Fragen: Bin ich für dich überhaupt da? Zeige mir, wer ich bin, wo meine guten und schwachen Seiten liegen! Und: Lass mich spüren, dass du mir etwas zutraust!“ Hier eine "richtige Balance zwischen Verstehen und Führen“ zu finden, darum gehe es in der Erziehung.

So wichtig und prägend also Vorbilder sind, so groß ist zugleich der Spielraum eines jeden Kindes, eine individuelle Identität zu entwickeln. "Der Mensch ist nicht nur Produkt von Genetik und Umwelt, er hat auch etwas je Originelles, Eigenständiges, das, was Alfred Adler als, schöpferische Kraft‘ bezeichnet hat“, weiß der Wiener Kinder- und Jugendpsychiater Werner Leixnering. Das Kind selbst ist es, das seine Vorbilder wählt - oder sich von ihnen irgendwann teilweise verabschiedet.

Missbrauchs-Priester als gefallene Ikonen

Das geschieht nicht nur in der Pubertät, wo sich die Glorifizierung von Eltern relativiert. Auch nach Enttäuschungs- oder Trennungssituationen - und erst recht nach Gewalterfahrungen - können langjährige Vorbilder ins Wanken geraten: Und je höher diese Vorbilder vorher platziert wurden, umso schmerzhafter ist ihr Fall. Was das konkret bedeutet, hat Leixnering als Mitglied der "Klasnic-Kommission“ bei der Arbeit mit Opfern sexuellen Missbrauchs in der Kirche erfahren. "Vertreter der Kirche stehen immer auf einem moralischen Sockel, sie werden - manchmal auch wider Willen - zu Idolen gemacht und vielfach gar nicht mehr als individuelle Menschen wahrgenommen. Wenn hier sexuelle Gewaltakte passieren, ist das tragisch und traumatisch“, so Leixnering. Umso enttäuschender war und ist für ihn, dass die Kirche oft keine klaren Worte der Schuld und Verantwortung gefunden hat, sondern sich oft nur von Einzeltätern distanzierte. "Ich habe mich immer schon mit Psychotrauma beschäftigen müssen, aber hier habe ich das in einer neuen Dimension kennengelernt - und auch erlebt, was eine, totale Institution‘ ist.“ (dh)

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