"Wie werden wir jedem Kind gerecht?"

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Das Thema schulische Inklusion erhitzt die Gemüter (vgl. FURCHE Nr. 25 und 26 sowie Leserbriefe). In der Wiener "Lernwerkstatt Donaustadt" zeigt sich, wie sie gelingen kann -und wieviel Engagement es dazu braucht. Ein Schnupperbesuch am Zeugnistag.

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Das Thema schulische Inklusion erhitzt die Gemüter (vgl. FURCHE Nr. 25 und 26 sowie Leserbriefe). In der Wiener "Lernwerkstatt Donaustadt" zeigt sich, wie sie gelingen kann -und wieviel Engagement es dazu braucht. Ein Schnupperbesuch am Zeugnistag.

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"Du hast Pinsel und Farbe, mal dir dein Paradies und geh hinein." An diesem Spruch von Nikos Katzanzakis, der in der Schulaula hängt, laufen normalerweise Dutzende Kinder vorbei. Doch an diesem Freitagvormittag ist es in der "Lernwerkstatt Donaustadt" in der Wiener Steinbrechergasse fast unwirklich ruhig: Die letzten Schülerinnen und Schüler haben sich mit ihren Zeugnissen längst in die Ferien aufgemacht, und die Pädagoginnen werden ihnen gleich folgen. Davor ist aber noch Zusammenräumen und Abschied nehmen angesagt.

Für Susanna Patschka ist es heute ein Abschied für immer: Nach zwei Jahrzehnten als Direktorin geht die charismatische Volksund Sonderschullehrerin sowie Psychotherapeutin in Pension. Als Dankeschön hat die gesamte Schule am Vortag ein "Susical" aufgeführt, in dem das "schlafende Schulsystem", das ständig nur "Das geht nicht!" jammert, gemeinsam verjagt wird. "In der Früh habe ich noch schnell ein Beruhigungsmittel genommen - zum ersten Mal in meinem Leben," erzählt Patschka gerührt.

Angst vor Veränderung

Rund 70 der 200 Kinder in der Lernwerkstatt haben offiziell "sonderpädagogischen Förderbedarf", zehn davon gelten als "schwerstbehindert" - bzw. ab Herbst als "Kinder mit erhöhtem Förderbedarf". Doch auch wenn sich die Begriffe ändern, die Herausforderungen bleiben: Diese Kinder, darunter solche mit Down-Syndrom oder starker Lernbehinderung, werden sich die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen nur in geringem Maß aneignen können.

Dass sie künftig laut UN-Behindertenrechtskonvention gemeinsam mit Kindern ohne Handicap unterrichtet werden sollen, hat bei vielen Eltern Sorge vor zu wenig Förderung ausgelöst. So geschehen etwa in der Caritas-Schule "Am Himmel"(vgl. FURCHE Nr. 25 und 26). Die "Lernwerkstatt Donaustadt", die eine reine Sonderschule war und nun als "Zentrum für Inklusions-und Sonderpädagogik" auch Integrationsklassen des Bezirks betreut, gilt hingegen als Erfolgsmodell: Erst jüngst wurde die Schule mit dem "Inclusia 2015"-Preis ausgezeichnet.

Dass es zu all dem kam, ist vor allem Susanna Patschkas Verdienst. Mit Hilfe des zuständigen Bezirksschulinspektors gelang es ihr vor 21 Jahren, zahlreiche Eltern von Montessori-Volksschulkindern für ihre Schule zu begeistern. Drei der zehn Sonderschulklassen wurden daraufhin in Integrationsklassen umgewandelt, in denen Haupt-und Sonderschullehrerinnen gemeinsam unterrichten. Dass heute, just an ihrem Abschiedstag, die letzte Sonderschulklasse ausläuft, erfüllt Patschka mit Genugtuung. "Es war mir immer klar, dass man die Sonderschulen öffnen muss", sagt sie in ihrem Büro. "Die Kinder genieren sich, in eine Sonderschule zu gehen, und wenn sich jeder geniert, muss etwas Neues her."

Dieses Neue schafft man freilich nicht allein, sondern nur gemeinsam. Ein eigenes Schulentwicklungsteam arbeitet das ganze Jahr über am weiteren Ausbau der inklusiven Schulstrukturen. "Wir fragen uns immer: Wie werden wir jedem einzelnen Kind gerecht?", erklärt Claudia Ovrutcki, die seit 14 Jahren als Integrationslehrerin an der "Lernwerkstatt" arbeitet und gemeinsam mit einer Kollegin das Schulentwicklungsteam leitet. Um auf individuelle Bedürfnisse eingehen zu können, wurden Jahrgangsteams eingerichtet, die die Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse begleiten und sich einmal wöchentlich austauschen. Ob in einzelnen Fächern eine, zwei oder (wie in Mathematik) drei Pädagoginnen eingesetzt werden, entscheiden die Teams autonom. Die Kinder selbst lernen weitgehend frei anhand von individuellen Lernplänen. Wie sie sich entwickeln, zeigt der "Kompass" (Kompetenzenpass), der nicht nur ihre Fach-,sondern auch ihre Lern-und Sozialkompetenzen dokumentiert. Dazu kommen zwei Mal im Jahr so genannte "KDL-Gespräche" (Kommentierte Direkte Leistungsvorlage), bei denen die Kinder in Portfolio-Mappen die Arbeit eines Semesters präsentieren.

Doch was ist mit der sozialen Dynamik? Wird das Versprechen vom gemeinsamen Leben und Lernen in Inklusionsklassen tatsächlich verwirklicht -oder kommt es gerade in der Sekundarstufe zu einem Nebeneinanderher oder sogar zu Diskriminierung, wie Kritiker fürchten? "Die Pubertät ist immer eine schwierige Zeit", antwortet Claudia Ovrutcki. "Aber die Kinder spüren an unserer eigenen Haltung, dass es gar nicht passt, jemanden anderen zu verspotten. Sie erwerben bei uns eine hohe, soziale Kompetenz." Zudem werden in jeder Klasse Schülerinnen und Schüler zu "Peermediatoren" ausgebildet, um im Konfliktfall zu vermitteln. Auch in den "KoKoKo-Stunden" (Kommunikation, Kooperation, Konfliktbearbeitung) wird sozial gelernt.

Herausfordernd sei ein inklusives Setting dennoch, weiß Claudia Ovrutcki. Dass Eltern und Lehrer vor allem bei drohender Ressourcenknappheit skeptisch sind, kann sie verstehen: "Oft steigen Eltern auf die Barrikaden, wenn die Nachmittagsbetreuung in den Integrationsklassen nicht gesichert ist. Und die Lehrer fürchten, die nötige Unterstützung von oben nicht zu bekommen."

Susanna Patschka hat die nötigen Ressourcen für ihre Schule hartnäckig erkämpft. Es gibt nicht nur eine Psychagogin und eine Sozialarbeiterin am Standort, sondern an drei Nachmittagen pro Woche auch ein "Atelier", wo vor allem Kinder mit erhöhtem Förderbedarf gemeinsam basteln, singen und feiern können. Dazu kommen entwicklungsbegleitende Angebote wie heilpädagogisches Voltigieren, Kunsttherapie, Moto- oder Dramapädagogik. Zwei Mal pro Woche kommt auch Miriam Klose mit ihrer Therapiehündin Jenny-Luna vorbei. Sie hat sie an der Leine, als sie sich am Zeugnistag in die Ferien verabschiedet. "Wir haben letzthin ein körperbehindertes Kind gehabt, das den Arm nicht verwenden wollte," erzählt die Pädagogin im leuchtendgelben Sommerkleid. "Doch beim Streicheln und Füttern der Jenny-Luna hat es plötzlich geklappt."

"Verkehrte Integration"

All diese Angebote klingen unendlich teuer -sind es aber nicht, wie Rupert Corazza betont, der sich als Wiener Landesschulinspektor für Sonderpädagogik seit Jahren um die Öffnung der Sonderschulen für Kinder mit regulärem Lehrplan ("verkehrte Integration") bemüht: "Diese Schule hat nicht wahnsinnig mehr Ressourcen als alle anderen", sagt er im FUR-CHE-Gespräch. "Was die können, müssten andere auch können."

Das betont auch Susanna Patschka, kurz bevor sie ihren Arbeitsplatz für immer verlässt: "Natürlich ginge überall eine solche gemeinsame Schule für alle. Doch dazu braucht es Teams, die sich mitverantwortlich fühlen. Und politisch Verantwortliche, die endlich mit dem Pallawatsch aufhören, Zehnjährige entweder in Neue Mittelschulen oder Gymnasien aufzuteilen."

Man wird sehen, ob Patschkas Bildungsparadies irgendwann Wirklichkeit wird -oder ob sie es sich vorerst aufzeichnen muss, wie Nikos Katzanzakis empfiehlt.

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