Wiedergeburt für ruinierte Mädchen

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Zerfall der Familien, Armut und organisierte Kriminalität machen Kinderprostitution und Sextourismus auch in Brasilien zur Wachstumsbranche.

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Zerfall der Familien, Armut und organisierte Kriminalität machen Kinderprostitution und Sextourismus auch in Brasilien zur Wachstumsbranche.

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dieFurche: Was suchen Sextouristen in Brasilien?

Dilma Felizardo: Lange Zeit wurde Brasilien in der Werbung mit einem Bild angepriesen, das die Frau als Sexualobjekt zeigte, um Touristen anzuziehen. Sextouristen sind überhaupt erst auf die Destination Brasilien gekommen, weil sie dem Bild von den hübschen, jungen, allzeit bereiten, anziehenden Mulattinnen nachlaufen. Jetzt hat unsere Bewegung, die von verschiedenen Organisationen in Brasilien getragen wird, begonnen, dieses Bild zu bekämpfen. Wir wollen, daß die Regierung verbietet, Frauen dementsprechend in der Brasilien-Werbung einzusetzen.

dieFurche: Frage an die Psychologin: Warum suchen diese Männer gerade junge Frauen?

Felizardo: Ich möchte zwischen den brasilianischen Männern und den Touristen unterscheiden. Bei den Brasilianern ist das eine Frage des Machismo. Wenn ein älterer Herr sich mit einem jungen Mädchen einläßt, dann sucht er, seine eigene Jugend zu retten. In dieser Situation begreift er nicht die Ungleichheit, die in dieser Beziehung liegt. Das unerfahrene Kind entwickelt sich psychisch, emotional usw. gerade, während der andere Mensch erfahren ist. Das Problem liegt darin, daß das von der Gesellschaft nicht als Verbrechen gesehen wird. Für brasilianische Männer, die nicht gerne Kondome verwenden, erscheint bei jungen Frauen die Gefahr, sich mit Aids zu infizieren, geringer. Viele Männer versuchen mit solchen Erfahrungen auch jene Unsicherheit zu überspielen, die sie gegenüber einer erwachsenen Frau verspüren würden.

dieFurche: Und warum gerade in Brasilien?

Felizardo: Um das zu beantworten, muß man sich ansehen, wie Sextourismus entstanden ist. Im Vietnamkrieg haben die amerikanischen Soldaten das fremde Land und die exotischen Frauen miteinander in Verbindung gebracht. Später kamen sie nach Thailand, wo die Regierung es sehr interessant fand, das exotische Land mit den anziehend exotischen Frauen in der Werbung zu verbinden. Man hat ganz bewußt in den Sextourismus investiert. In den neunziger Jahren sind schon dreißig Prozent der Kinder an Aids erkrankt, und es beginnt eine Mobilisierung gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern in Asien. Die Touristen, die in gewisse asiatische Destinationen fliegen, sind schon gebrandmarkt, es wird ihnen unangenehm. Und Brasilien lag mit seiner Werbung auf derselben Linie, daher hat sich seit Ende der achtziger Jahre einiges aus Asien dorthin verlagert.

dieFurche: Doch auch hier bringt Ihre Bewegung so manches Verbrechen ans Licht ...

Felizardo: Wir versuchen, Richter und Staatsanwälte zu erreichen, um den hohen Prozentsatz an ungestraften Verbrechen zu senken. Wir begleiten gerade drei Fälle von Deutschen, die in Brasilien sexuellen Mißbrauch begangen haben, damit sie in ihrem Herkunftsland belangt werden. Einer hat in Foz do Iguacu Kinder dazu bewegt, miteinander Sex zu haben, und dabei gefilmt. Er hat dann die Kinder hergenommen und sie Sex mit Erwachsenen machen lassen. Daraus sind über 60 Porno-Videos entstanden. Einige der Kinder auf diesen Videos gelten als verschwunden.

dieFurche: Was hat sie überhaupt in diese Welt der Abhängigkeit gebracht?

Felizardo: Sie wurden oft zu Hause rausgeworfen, die Familien sind zerfallen. Die Eltern konnten ihnen oft nicht die minimalen Bedingungen für eine würdige Kindheit geben. Für mich gehört da Wohnung, Schulbildung und Ernährung dazu. Diese Mädchen hatten nicht regelmäßig zu essen, gingen nicht wirklich in die Schule. Sie müssen kämpfen. Die soziale Situation in Brasilien ist oft so, daß es an Alternativen fehlt. Die Prostitution ist oft die einzige offene Tür.

dieFurche: Das klingt so, als würden die Frauen nach selbstbestimmter Entscheidung in die eigene Tasche oder die der Familie arbeiten. Steht nicht oft organisierte Kriminalität dahinter?

Felizardo: Das gibt es auch: Die Mädchen haben gerade so viel, daß sie überleben können, und andere machen den Gewinn.

dieFurche: Wie lange hält ein Mädchen diesen Kampf aus?

Felizardo: Das Leben in der Prostitution betrifft ein Mädchen, das noch nicht erwachsen ist, sowohl psychisch als auch emotional total. Erschwerend kommen der Gebrauch von Drogen und von Alkohol hinzu. In Bundesstaaten mit repressiven Gesetzen werden Mädchen auch für Drogenhandel benützt. Dazu kommen Gewalt - Schläge und andere Formen - und Krankheiten sowie Abtreibungen.

dieFurche: Wie hoch ist die Lebenserwartung dieser Kinder, denen Gesundheitssystem und Justiz kaum zugänglich sind?

Felizardo: Nach meiner Erfahrung in Recife werden die Mädchen, wenn sie von keinem Programm unterstützt werden, gerade zwanzig Jahre alt.

dieFurche: Wie hilft Ihr "Haus Wiedergeburt" den Mädchen?

Felizardo: Die Gewalt und die Traumen, die den jungen Frauen auf der Straße zugefügt wurden, verarbeiten sie mit künstlerischen Ausdrucksformen wie Theater, Tanz und plastischer Kunst. Es ist wichtig, die Selbstachtung der Frauen wieder zurückzugewinnen. Da werden Beziehungsbande neu geknüpft, zwischen Betreuerin und Mädchen, aber sehr bald auch zur eigenen Mutter.

dieFurche: Gibt es eine Erfahrung mit diesen Biographien der Abhängigkeit und Gewalt, die Sie ganz besonders berührt hat?

Felizardo: Einmal habe ich auf der Straße ein Mädchen getroffen, das geweint hat und mir dann ihre Geschichte erzählte. Sie war vom Stiefvater sexuell mißbraucht worden. Die eigene Mutter hat ihr das nicht geglaubt. Als das Mädchen schließlich schwanger wurde, hat die Mutter das Mädchen und nicht den Stiefvater aus dem Haus geworfen. In den langen Gesprächen mit dem Mädchen sagte es, es würde am liebsten noch einmal geboren werden. Das hat mich sehr geprägt und den Ausschlag gegeben, daß wir dem "Casa Renascer" diesen Namen gegeben haben. Den Mädchen sollte signalisiert werden, daß über dieses Haus eine Veränderung ihres Lebens, eine Art Wiedergeburt möglich ist.

dieFurche: Von den Kinderprostituierten, die Sie nicht erreichen, sollen immer wieder welche umgebracht werden - nur Einzelfälle?

Felizardo: Viele Mädchen verschwinden einfach so in Brasilien. Sie werden verschleppt und dann als Prostituierte gehandelt. Viele Todesfälle werden auch durch die Polizei verursacht - systematisch. Da ist die Zahl bei den Buben höher.

dieFurche: Was wissen Sie über die Hintermänner?

Felizardo: Bei diesem Geschäft schneiden viele mit: Taxifahrer, Zuhälterinnen und Zuhälter, Fremdenführer sowie Besitzer von Strandbars, die Mädchen mit Geschäftsleuten, Touristen und Politikern zusammenbringen. Und zum Teil auch Staatsangestellte, die Mädchen falsche Papiere mit vorverlegtem Geburtsdatum ausstellen. Es soll so aussehen, als wären sie bereits erwachsen. In einem Fall ist bekannt geworden, daß vom Schreiber bis zum Verantwortlichen alle in diesem Amt mitgespielt haben. In Natal haben wir es geschafft, 15 Personen, die in die Mafia-Geschäfte involviert sind, anzuzeigen. Da sind Gerichtsverfahren anhängig.

dieFurche: Wer die Hinterleute kennt, lebt wohl gefährlich ...

Felizardo: Ich bekomme sehr unangenehme Telefonanrufe: Todesdrohungen und viel Psychoterror.

dieFurche: Woher nehmen Sie die Kraft, das schon viele Jahre auszuhalten?

Felizardo: Ich spüre die Verpflichtung, darum zu kämpfen, daß Kinder und Frauen gerechte und würdige Lebensbedingungen haben. Außerdem bestärkt mich jedes einzelne Mädchen, das wieder ins "normale Leben" integriert wird.

Das Gespräch führte Roland Schönbauer.

Zur Person Eine brasilianische Psychologin im Kampf gegen Kindersex Dilma Felizardo hat Psychologie studiert. Sie wirkt, nachdem sie viele Jahre in der unmittelbaren Sozialarbeit tätig war, heute als Koordinatorin der brasilianischen Kampagne gegen die Kinderprostitution und den Sextourismus. Durch Bewußtseinsbildung bei Reiseveranstaltern und gezieltes Lobbying möchte ihre Bewegung für eine entsprechende Strafverfolgung sorgen.

Die 36jährige Dilma Felizardo ist seit 15 Jahren für die geächteten Straßenkinder engagiert und daher auch immer wieder Zielscheibe von massiven Drohungen.

Felizardo gründete ein spezielles Auffangzentrum für Mädchen von der Straße, das "Casa Renascer" in Natal. Unterstützt von der Sternsingeraktion, bietet das "Haus Wiedergeburt" medizinische und psychologische Versorgung sowie eine Vorbereitung auf ein später wieder "normales Leben".

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