Willenskraft auf Prothesen

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Franz-Joseph Huainigg über seinen Traum vom olympischen Wettstreit zwischen behinderten und nicht-behinderten Sportlern auf gleicher Augenhöhe.

Ich gestehe, ich habe mit Sport nicht viel am Hut. Sportbeilagen in Zeitungen wandern ungelesen in den Papierkorb, bei Sportsendungen im Fernsehen schalte ich schnell um, natürlich betreibe ich selbst keinen Sport. Dabei prägte der Sport mein gesamtes Leben: Neidisch sah ich meinem Bruder zu, wie er mit meinem Vater Fußball spielte, ich besuchte die Sporthauptschule, weil sie ebenerdig und daher barrierefrei erreichbar war und hatte sechs Freistunden pro Woche, da ich vom Turnunterricht befreit war. Bei späteren Lesungen vor Volksschülern erklärten mir die Kinder, dass ich im Rollstuhl sitzend ja nichts machen kann, nicht auf Bäume klettern, nicht Fußball spielen. Wenn ich nachfragte, ob sie behinderte Menschen kennen, fielen ihnen immer Sportler ein: Skifahrer mit einem Bein, Basketball- und Rugbyspieler im Rollstuhl. Dann folgte unausweichlich die peinliche Frage: „Betreibst du auch Sport?!“ – Darauf ich: „Ja, ich ziehe mich in der Früh alleine an.“

Technologie-Doping?

Heute betreibe ich nicht einmal mehr den Anziehsport, sondern habe ihn an persönliche Assistentinnen ausgelagert. Als ich Mitte Mai abends von meiner Assistentin im Bett gelagert wurde, fingen im Fernsehen die Sportnachrichten an. Gerade wollte ich umschalten, da ließ uns folgende Meldung aufhorchen: Der doppelamputierte südafrikanische Sprinter Oscar Pistorius darf bei der Olympiade in Peking starten. Er hatte darum gekämpft, sich mit nicht-behinderten Läufern messen zu können. Nun hatte ihm dies der internationale Sportgerichtshof zugestanden. Im Bild war Oscar Pistorius zu sehen, wie er mit zwei dünnen Karbon-Prothesen einen nicht-behinderten Läufer überholte. Ich jubelte: „Super! Das ist Gleichstellung!“ Meine Assistentin, eine sehr ambitionierte Sportlerin, war entsetzt: „Von einem behinderten Menschen im Sport geschlagen zu werden! Diese Beinprothesen sind ja das reinste Technologie-Doping!“ Ich hingegen fand es toll, dass ein behinderter Mensch bei den normalen Wettbewerben startet. Gegenüber meiner Assistentin argumentierte ich, dass Oscar Pistorius eben eine besondere körperliche Leistung erbringt. Dies zeigt sich darin, dass er bei Wettkämpfen alle gleichartig orthopädisch versorgten Mitbewerber mit Abstand besiegte.

Die Assistentin schüttelte uneinsichtig den Kopf: „Es gibt ohnehin die Paralympics. Da könnt ihr euch unter euresgleichen messen!“ – Darauf ich: „Darüber wird medial kaum berichtet und die Anerkennung ist leider nicht die gleiche. Was würdest du davon halten, wenn es eine eigene Olympiade für Frauen, eine ‚Genderlympics‘, geben würde?“ Auch wenn ich das letzte Wort hatte, blieb unser verbaler Wettkampf unentschieden.

Erstmals in meinem Leben hatte ich einen Grund, mich auf die olympischen Spiele zu freuen. Ich wollte Oscar Pistorius die Daumen halten.

Szenenwechsel: Im Rehabilitationszentrum Tobelbad in der Steiermark wird eifrig trainiert. Amputierte spielen Sitzfußball, Rollstuhlfahrer fahren auf den Hinterrädern aufgekippt über steile Abhänge, Querschnittgelähmte spielen Rollstuhl-Tennis oder testen ihre Leistungsfähigkeit in der Schwimmhalle. Für viele beginnt nach einem Absturz beim Paragleiten oder einem Mopedunfall ein neues Leben. Etwa im Rollstuhl oder mit einer Beinprothese. Sport und Fitness ist die von den Therapeuten propagierte Lebensphilosophie: Integration und gleichwertiges Mithalten in der Gesellschaft sei nur durch körperliche Leistungsfähigkeit erreichbar. Viele behinderte Menschen finden auf diese Weise angeregt ihre neue Lebensaufgabe im Sport. Stolz erzählen sie über Wettkämpfe, Reisen und mitgebrachte Medaillen. Absurderweise werden die meisten verunfallten Patienten im Rahmen der Rehabilitation auf Grund der Querschnittlähmung oder Amputation in die Invaliditätspension geschickt. Selbst behinderte Spitzensportler werden oft als nicht berufsfähig eingestuft. Wer nicht den Einstieg in den Sport findet, sitzt häufig ohne jegliche Perspektive zu Hause. Doch tut man damit den behinderten Menschen wirklich etwas Gutes? Ich denke nicht. Im Gegenteil: So werden jungen Menschen schnell Berufschancen verbaut. Der Wettkampf im Leben findet nicht nur in Sportstadien, sondern auch in der Schule, in Ausbildungen und im Beruf statt.

Behinderte Menschen treten heute selbstbewusster auf und fordern, sich mit nicht-behinderten Menschen auf gleicher Augenhöhe zu messen. Statt dem üblichen Telefonisten-Job streben blinde Menschen an, Richterinnen zu werden. Gehörlose wollen nicht mehr Schneider werden, sondern Lehrer, die Kinder in ihrer Sprache, der Gebärdensprache, unterrichten. Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer haben heute neue Berufsbilder wie Managerinnen, Wissenschaftler und Journalistinnen.

Die Eroberung der Gleichstellung in der Berufswelt findet schon seit längerer Zeit im Sport statt. Bei nahezu jedem Marathon starten auch Rollstuhlfahrer. Es wird darüber nicht berichtet, aber sie sind schneller und kommen als erste ans Ziel. Der Fußballspieler Julio Gonzales verlor bei einem Autounfall seinen linken Arm. Er lehnt jede Sonderbehandlung ab, spielt wieder bei seiner Heimatmannschaft in Paraguay und sieht dies als Triumph des Willens über die Hoffnungslosigkeit.

Der größte Triumph erscheint jedoch für behinderte Sportlerinnen und Sportler, wenn sie an der normalen Olympiade teilnehmen können.

Beispiele aus der Vergangenheit zeigen, dass dies möglich ist: Schon 1904 holte George Eyser in St. Louis trotz seines Holzbeins dreimal Gold im Turnen. Die erste Olympia-Teilnehmerin im Rollstuhl war 1984 in Los Angeles die Neuseeländerin Neroli Fairhall. Nach ihrem 35. Platz im Bogenschießen wurde sie damals gefragt, ob es ein Vorteil sei, im Sitzen zu schießen. Fairhalls Antwort: „Keine Ahnung. Ich habe noch nie im Stehen geschossen.“ Im Jahr 2000 war es in Sydney die blinde Läuferin Marla Runyan, die mit einem achten Platz über 1500 Meter für Furore sorgte.

Die Olympischen Spiele in Peking werden jedoch ohne Oscar Pistorius stattfinden. Er hätte starten dürfen, hat aber dann die Mindestzeit für die Qualifikation nicht erreicht. Im Vorfeld gab es eine heftige Kontroverse, ob die Beinprothesen ihm einen Wettbewerbsvorteil verschaffen würden. Wenn das Schule macht, so die Kritiker, werden sich bei den nächsten Spielen möglicherweise nicht-behinderte Sportler orthopädische Ersatzteile gezielt einoperieren lassen und auf einer Teilnahme bestehen. Technologisch gedopte Hybridsportler wären die Folge.

Die Materialschlacht ist indes längst im Gange. Bei Schuhen kommen neben Spikes spezielle Sohlen zum Einsatz, mit denen Hersteller versprechen, mehr zu schweben als zu laufen.

Doppelte Leistung nötig

Auch ohne Oscar Pistorius werden zwei behinderte Sportler sich in Peking den nicht-behinderten Mitbewerbern stellen: Im Fliegengewicht der Boxer tritt der taube Ungar Norbert Kalucza an. Und bei den Langstreckenschwimmerinnen rechnet sich die Südafrikanerin Natalie du Toit ernsthafte Medaillenchancen aus – obwohl sie ihr linkes Bein durch einen Verkehrsunfall verloren hat.

Für beide gilt: Gleiche Anerkennung gibt es erst bei doppelter Leistung.

Der Autor ist ÖVP-Sprecher für Menschen mit Behinderungen. Diesen Freitag, 22. August, wird um 11 Uhr im Café Landtmann (Dr.-Karl-Lueger-Ring 4, 1010 Wien) sein neues Buch präsentiert:

AUCH SCHILDKRÖTEN BRAUCHEN FLÜGEL. Ein herausforderndes Leben

Von Franz-Joseph Huainigg

Verlag Carl Ueberreuter, 256 Seiten, geb., € 21,95.

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