Willkommener Besuch vom Jugendamt

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Familien sollten schon früh erreicht werden, bevor sie überfordert sind und in Krisen schlittern. Doch das Wie entzweit die Fachleute. Ein Ringen um die besten Modelle in der Jugendwohlfahrt.

Drei Kinder mussten Stefanie S. und ihrem Partner bereits vom Jugendamt abgenommen werden. Die Eltern waren ohne Schulabschluss und Arbeit und nahmen missbräuchlich Tabletten. Dann kündigte sich das vierte Kind an und die nächste tragische Kindsabnahme. Doch das Paar hatte zwischenzeitlich seinen Wohnort gewechselt, es zog nach Dormagen - einer 64.000-Einwohner-Stadt in Nordrhein-Westfalen. Dort schien sich das Blatt zu wenden.

Dormagen - zwischen Düsseldorf und Köln gelegen - gilt als Vorzeigestadt in Deutschland in Sachen Kinderschutz; zunehmend auch über die Grenzen hinaus. Unter der Leitung des SPD-Bürgermeisters Heinz Hilgers, der auch Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes ist, wurde ein ganzheitliches Frühwarnsystem zum Schutz vor Kindesmisshandlung und Vernachlässigung entwickelt.

Mutter und Kind im Kindergarten

Der Um- und Aufbau begann vor zehn Jahren. "Das Modell setzt auf präventive Angebote für alle Familien so früh als möglich, auf besondere Unterstützungsangebote für benachteiligte Familien und auf die Sicherung der Grundbedürfnisse der Einwohner", erklärt Uwe Sandvoss, Projektleiter des Dormagener Modells, bei der Tagung "Jedes Kind zählt", die vor wenigen Tagen im Bildungszentrum St. Virgil in Salzburg stattfand. Das Ziel sei eine Präventionskette von Schwangerschaft bis Schule, so Sandvoss. Und erst nach diesen vorbeugenden Bausteinen würden die früheren Kernaufgaben der Jugendwohlfahrt stehen: Notfallsmaßnahmen.

Wesentlich für den Erfolg des Modells sei die Zusammenarbeit möglichst aller Akteure, die mit Familien und Kindern arbeiten, also von Gynäkologen bis Lehrern. Und so wurde auch für Stefanie S. um eine Lösung gerungen - eines der Beispiele, die Sandvoss gerne erzählt: Gesucht wurde ein Kindergarten, nicht nur für das Baby, sondern auch für die Mutter selbst. Man wurde fündig. So durfte Stefanie S. für mehrere Monate zusammen mit ihrem Sohn in einen Montessori-Kindergarten. Dort half die junge Mutter nicht nur mit, was ihr Selbstbewusstsein stärkte, sie lernte auch von den Pädagoginnen, ihr Kind zu füttern, zu liebkosen und mit ihm zu spielen, was die in ihrer Entwicklung verzögerte Frau bis dahin nicht gewusst hat. Das vierte Kind konnte also in der Familie bleiben - wenn auch mit einem enormen Unterstützungsaufwand.

Ähnlich aufwendige Projekte gibt es auch in anderen Ländern und Städten: in Wien etwa das Familiencoaching. Diese Projekte verspürten zumindest in Österreich in letzter Zeit auch Gegenwind: Nicht zuletzt durch den Fall Luca hatten jene Stimmen wieder zugenommen, die für frühere Kindsabnahmen plädierten als für die intensive Betreuung schwieriger Familien, damit die Kinder mehr oder weniger mit den Eltern leben können.

Dormagen bekräftigt umso mehr den Weg, volle Kraft in ihr "Netzwerk Frühe Förderung" zu investieren. Ein wichtiger Baustein dafür ist das "Babybegrüßungspaket", das von einer Sozialarbeiterin oder einem Sozialarbeiter persönlich den frisch gebackenen Eltern übergeben wird - und zwar allen und in den Wohnungen der Familien. Die anfängliche Skepsis und die Vorurteile der Eltern vor Jugendwohlfahrtsbeamten sei bei den meisten bald gewichen, versichert Sandvoss. Es gehe den Sozialarbeitern vor allem darum, sich vorzustellen und Beratung anzubieten. Dass auch ein wenig Kontrolle dabei ist, wird nicht bestritten. Laut Stadtregierung würden nur in Einzelfällen die Sozialarbeiter nicht in die Wohnung gelassen. Das werde akzeptiert, sagt Sandvoss. Der Vorteil des Aufwandes laut Fachleuten in Dormagen: Wenn alle Eltern besucht werden, fühlt sich keiner diskriminiert. Das erleichtert die Akzeptanz der Jugendwohlfahrt und verändert ihr Image. Dormagen ist auch nicht Erfinder der Idee, in Dänemark etwa ist dies Praxis, auch Kronprinzessin Mary wurde vom Jugendamt besucht. Zudem bekommen die Sozialarbeiter "ein Gesicht" und das senkt die Hemmschwelle, Hilfe zu suchen, wenn man sie braucht. Gegner dieser Idee sehen die Gefahr, dass Eltern per se misstraut wird. Das Wiener Amt für Jugend und Familie, die Mag Elf, verweist auf das Wäschepaket, das nach der Geburt von Sozialbarbeitern im Krankenhaus übergeben wird. "Dadurch werden auch so gut wie alle neuen Eltern erreicht", sagt Herta Staffa, Sprecherin der Mag Elf.

Besuch bei allen Neugeborenen

In Dormagen argumentiert man mit dem Konzept eines familienfreundlichen Klimas, vielen Angeboten und direktem Kontakt, aber auch Kontrollen. Dennoch verweist Sandvoss auf die hohe Akzeptanz des Modells und resümiert: Gab es 1999 noch ca. 30 Kinder, die aus ihren Familien genommen werden mussten, so waren es in diesem Jahr bisher drei Kinder; wurden 1999 rund 30 Familien ambulant unterstützt, sind es nun ca. 300 Haushalte. Die stationären Unterbringungen gingen stark zurück. Andere Kommunen in Deutschland erproben ihre Modelle; etwa die Einbeziehung von Laien durch Patenschaften. Viele dieser Projekte müssen erst auf ihre Nachhaltigkeit hin überprüft werden. Auch Dormagens Modell wurde noch nicht wissenschaftlich evaluiert.

Drei Kinder mussten Stefanie S. bereits vom Jugendamt abgenommen werden. Die jungen Eltern waren ohne Schulabschluss, arbeitslos und zudem von Tabletten abhängig. Dann kündigte sich das vierte Kind an und die nächste tragische Kindesabnahme. Doch das Paar hatte zwischenzeitlich seinen Ort gewechselt - sie zogen nach Dormagen - eine 64.000 Einwohner Stadt in Nordrheinwestfalen. Und dort schien sich das Blatt zu wenden.

Dormagen - zwischen Düsseldorf und Köln gelegen - gilt als die Vorzeigestadt in Deutschland in Sachen Kinderschutz. Unter der Leitung von Bürgermeister Heinz Hilgers, der zugleich Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes ist, wurde ein ganzheitliches Frühwarnsystem zum Schutz vor Kindesmisshandlung und Vernachlässigung entwickelt.

Besuch bei allen neuen Babys

"Das Modell setzt auf umfassende präventive Angebote für alle Familien, auf besondere Unterstützungsangebote für benachteiligte Familien und auf die Sicherung der Grundbedürfnisse der Einwohner", erklärt Uwe Sandvoss, Projektleiter des "Dormagener Modells" bei der Tagung "Jedes Kind zählt" im Bildungshaus St. Virgil in Salzburg vor wenigen Tagen. Erst dann würden die früheren Kernaufgaben der Jugendwohlfahrt an die Reihe kommen, sprich Notfallmaßnahmen, wenn das sogenannte Kindeswohl unmittelbar in Gefahr ist. Wesentlich für den Erfolg sei es, möglichst alle Akteure, die mit Eltern und Kindern arbeiten, einzubeziehen, also von Frauenärzten bis Lehrern. Und so wurde auch für Stefanie S. eine Lösung erarbeitet, wie Sandvoss erläutert: Gesucht wurde ein Kindergarten, nicht nur einer, der ein vier Monate altes Baby aufnahm, sondern auch dessen Mutter: Man wurde fündig. Stefanie S. durfte also für mehrere Monate zusammen mit ihrem vierten Sohn täglich für einige Stunden einen Montissori-Kindergarten besuchen. Dort lernte sie, wie sie ihr Kind versorgt, liebkost und fördert. Die in ihrer eigenen Entwicklung stark verzögerte Mutter wusste etwa nicht, wie man mit einem Kind spielt. Auch das Selbstbewusstsein der Frau wurde dabei gestärkt, indem sie im Kindergarten mithelfen konnte. Das vierte Kind konnte also in der Familie bleiben - wenn auch mit intensiver Unterstützung.

Ein wichtiger Baustein des Modells "Netzwerk Frühe Förderung" ist das "Babybegrüßungspaket", das von einer Sozialarbeiterin oder einem Sozialarbeiter persönlich allen frisch gebackenen Eltern übergeben wird - und zwar direkt in die Wohnungen der Familien. Die anfängliche Skepsis und Vorurteile der Eltern vor Jugendwohlfahrtbeamten sei bald gewichen, versichert Sandvoss. Dass ein leicht kontrollierendes Auge aber auch mitsieht, wird nicht abgestritten. Aber es gehe den Sozialarbeiterinnen vorwiegend darum, sich vorzustellen und Beratung anzubieten.

Laut Sandvoss ein Erfolg: Nur in Ausnahmefällen würden die Sozialarbeiterinnen nicht ins Haus gelassen. Das werde dann auch akzeptiert. Der Vorteil des Aufwandes laut Fachleute in Dormagen: Wenn alle Eltern besucht werden, dann fühlt sich keiner diskriminiert, das erleichtert die Akzeptanz des Jugendwohlfahrtmitarbeiter und schafft ein neues Image. Dormagen ist nicht Erfinder dieser Idee, auch in skandinavischen Ländern werden diese Besuche bei allen neuen Babys praktiziert: zum Beispiel in Dänemark, wo auch Prinzessin Mary die Sozialarbeiterin des Jugendamtes empfing. Zudem bekomme der Sozialarbeiter durch den persönlichen Kontakt "ein Gesicht", das senkt die Hemmschwelle, Hilfe zu suchen. Gegner dieser Idee sehen die Gefahr, Eltern per se zu misstrauen.

In Dormagen verweist man auch auf erste Zahlen, die den Erfolg des gesamten Modells (nicht nur des "Begrüßungsbesuches") belegen sollten, wissenschaftlich begleitet wird das Modell noch nicht: Gab es 1999 noch ca. 30 Kinder, die aus ihren Familien genommen werden mussten (die Fremdunterbringung umfasste 104 Tage) so waren es im Jahr 2008 bisher nur drei Kindesabnahmen, wobei diese Kinder nur acht Tage aus der Familie genommen werden mussten. Wurden 1999 rund 30 Familien mit ambulanten Hilfen gezählt, sind es nun 300 Haushalte; stationäre Unterbringungen gingen deutlich zurück. Dass so ein Modell teuer sei, weist Sandvoss von sich: Die Finanzierung habe man durch Umschichtungen gesichert.

Neues Netzwerk im Aufbau

Die Unterstützung für Eltern müsse aber noch früher ansetzen, meint etwa Peter Braun, Direktor von St. Virgil: schon während der Schwangerschaft. Dem großen medizinischen Fortschritt in den Untersuchungen während der Schwangerschaft stehe ein Mangel an Unterstützung für die werdenden oft stark verunsicherten Eltern gegenüber. Daher befindet sich zur Zeit ein Netzwerk für prä-, peri- und postnatale Psychologie im Aufbau. Es versteht aus 20 Einrichtungen, die sich mit Schwangerenberatung und Geburt beschäftigen. Ziel des Netzwerkes ist die bessere Beratung und Unterstützung von Eltern von Beginn der Schwangerschaft bishin zum ersten Lebensjahr des Kindes. St. Virgil wird als Bildungseinrichtung Teil des Netzwerkes sein und sich mit Bildungsangeboten einbringen.

Die Idee, alle Babys zu besuchen, stößt aber auch auf Skepsis: Ein Besuch bei allen frischen Eltern sei ein Weg, aber nicht unserer, meint Herta Staffa, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit des Mag Elf, das Amt für Jugend und Familien in Wien. "Wir gehen einmal davon aus, dass ein Großteil der Eltern verantwortliche Eltern sind." In Wien erreiche man frisch gebackene Eltern über das Wäschepaket, das meist auf der Wöchnerinnenstation im Krankenhaus von Sozialarbeiterinnen an die Mütter übergeben werde. "Auf diesem Weg gibt es nur sehr wenige, die wir nicht erreichen," versichert Staffa. In Wien verweist man zudem auf neue Projekte, um Familien intensiv zu betreuen oder frisch gebackene Eltern so früh als möglich Unterstützung anzubieten.

Besonders die Phase vor und nach der Geburt ist eine Zeit großer Verunsicherung für viele Eltern. Hier setzen viele präventive Projekte zum Kinderschutz an.

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