"Wir haben die Pflicht, hinzuschauen!“

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Als junge Mitarbeiterin eines Reisebüros hört Astrid Winkler sprachlos zu, wie ihr ein Kindersextourist seine Abenteuer schildert. Heute kämpft sie gegen die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen - und für die Konfrontation mit der oft unfassbaren Realität.

"Stoppt die Kinderschänder“, "Die Vergewaltigung der Wehrlosen“ oder "Ich war erst 13“: Die Buchtitel im Regal des kleinen Büros von Astrid Winkler in Wien-Josefstadt haben es in sich. Auf dem Tisch daneben liegen knallgelbe Folder. Es sind Vorlagen der Petition "Stoppt Sex-Handel mit Kindern & Jugendlichen“, die von der Kosmetikkette "The Body Shop“ und dem Netzwerk "ECPAT Österreich“ (die Abkürzung steht für "End Child Prostitution, Child Pornography And Trafficking of Children for Sexual Purposes“) initiiert worden ist. Immerhin 55.000 Unterschriften konnte Winkler als Geschäftsführerin von ECPAT Österreich kürzlich an Nationalratspräsidentin Barbara Prammer übergeben.

"Menschenhandel und sexuelle Ausbeutung spielen sich nicht nur in armen Ländern ab, sondern mitten unter uns“, sagt die zierliche 49-Jährige mit Vehemenz in der Stimme: Es ist in Österreich, wo manch bettelnde Kinder, die das geforderte Geld nicht abliefern können, als Bestrafung zur Prostitution gezwungen werden; es ist in Österreich, wo sich Mädchen hinter der Fassade von Massage-Salons feilbieten müssen; und es ist in Österreich, wo jene Biedermänner leben, die sich heimlich durch Kinderpornos klicken oder sich im Urlaub mit Mädchen, die so alt wie ihre eigenen Töchter sind, ein besonderes "Abenteuer“ gönnen.

"Es hapert an banalen Dingen!“

Durch internationale Abkommen können solche "Kindersextouristen“ zwar mittlerweile auch in ihrem Heimatland strafrechtlich verfolgt werden, erklärt Winkler. Doch das sei oft schwierig und aufwendig - wie die Identifizierung der Opfer von sexueller Ausbeutung oder Kinderhandel insgesamt. Polizei, Jugendwohlfahrt oder Flüchtlingsbetreuungseinrichtungen, die als Erste mögliche Opfer erkennen könnten, seien zu wenig geschult. An Sensibilisierung mangle es freilich überall - trotz aller Abkommen: "Es hapert oft an ganz banalen Dingen“, klagt Astrid Winkler: "daran, dass es im Krankenhaus keine Dolmetscher gibt, dass traumatisierte Mädchen ihre Geschichte fünf Mal erzählen müssen oder dass Vergewaltigungsopfer immer noch von Männern untersucht werden. Da denke ich mir: Meine Güte!“

Diese Ignoranz, dieses Versagen der Strukturen treibt Astrid Winkler auf die Palme - und zugleich vorwärts: heute, in ihrem Engagement bei "ECPAT Österreich“ in Wien, genauso wie damals in diesem Reisebüro in Klagenfurt. Es ist Mitte der Achtziger-Jahre, in der Blütezeit des Sextourismus, als die im steirischen Teufenbach aufgewachsene Absolventin einer Tourismusfachschule einem Stammkunden gegenüber sitzt. Begeistert erzählt er der sprachlosen Angestellten von seinem grandiosen Urlaub: vom hilfreichen Taxifahrer, der ihm gleich nach seiner Landung mit dem "Bums-Bomber“ (wie Touristiker damals die Flüge nach Thailand nannten) eine Show empfahl, und von den jungen Mädchen auf der Bühne, die man sich mit ins Hotel nehmen konnte. "Er hat mir sogar stolz die Fotos gezeigt“, erinnert sich Astrid Winkler noch heute. "Die Mädchen mussten ihren Mund aufmachen, damit die Männer ihre Zähne prüfen konnten. Wie auf dem Viehmarkt!“ Angewidert von diesem Erlebnis beschließt die junge Frau, dem Tourismus den Rücken zu kehren und sich neu zu orientieren. Sie engagiert sich bei Greenpeace, arbeitet zwei Jahre lang im aktuellen Dienst des ORF Kärnten - und entscheidet sich mit 30 Jahren für das Soziologie-Studium, um jenen Themen, die ihr am Herzen liegen, endlich länger auf den Grund gehen zu können. Fünf Jahre lang forscht sie mit sieben anderen Frauen über die Situation von Bäuerinnen in Österreich, baut ihre Erkenntnisse zur Diplomarbeit aus und arbeitet danach für die Evangelische Akademie.

"Mit der Keule“ zurück zum Tourismus

Es ist 2001, als sie wieder mit den dunklen Seiten des Tourismus in Berührung kommt - doch diesmal "mit der Keule in der Hand“, erzählt Astrid Winkler lächelnd: Gemeinsam mit Christian Baumgartner beginnt sie bei "Respect - Institut für integrativen Tourismus und Entwicklung“, an der Umsetzung des Kinderschutzkodex in der Tourismuswirtschaft zu arbeiten. Zwei Jahre später starten sie damit, die Fachstelle "ECPAT“ als Netzwerkknoten verschiedenster Organisationen aufzubauen (darunter Dreikönigsaktion, Kinderfreunde oder Missio) - und 2007 wird Winkler schließlich Geschäftsführerin des Österreich-Ablegers von "ECPAT“, einer Organisation, die mittlerweile in 80 Ländern vertreten ist.

Hier ist sie Tag für Tag mit Unfassbarem beschäftigt: mit Kinderpornografie, Vergewaltigungen - oder minderjährigen Prostituierten in Wien, von denen viele glauben, es gäbe sie nicht. "Oft höre ich: ‚Pah, so schrecklich, wie hältst du das aus?‘“, erzählt die zierliche Frau. "Aber wir haben die Pflicht, hinzuschauen! Jeder und jede muss dort aktiv werden, wo er oder sie kann. Einfach zu sagen, Oh Gott, ich kann mir das nicht einmal anhören!‘, das steht uns nicht zu!“

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